Als vor einem Jahr klar wurde, dass unsere G’ttesdienste und Familienfeiern an Pessach wegen der Corona-Pandemie ausfallen müssen, da hofften wir auf Rosch Haschana. Doch statt an den Feiertagen im Herbst zusammenzukommen, unterhielten wir uns mit unseren Lieben digital über die zweite Welle – und fragten uns leise, wie es wohl beim nächsten Pessachfest sein werde.
Und jetzt müssen wir nicht nur weiter Lockdown-Einschränkungen ertragen, sondern auch ständig neue Ankündigungen, wann wer mit dem Impfen an der Reihe ist oder wann die kostenlosen Schnelltests zu bekommen sind. Die Corona-Pandemie ist zu einem großen Geduldsspiel geworden. Nur leider fehlt das Spielerische.
zeitgefühl Bei den meisten Menschen führt die Pandemie zu einem neuen Verhältnis zur Zeit. Erste Umfragen haben gezeigt, dass unser Zeitgefühl seit dem Lockdown im Frühjahr 2020 gestört ist. Auf der einen Seite ziehen sich manche Tage zäh dahin, weil weder Treffen mit anderen Menschen noch Freizeitaktivitäten möglich sind. Auf der anderen Seite ertappt man sich dabei, überrascht auf den Kalender zu blicken – sind es jetzt tatsächlich schon vier Monate im zweiten Lockdown?
Bei den meisten Menschen führt die Pandemie zu einem neuen Verhältnis zur Zeit.
Manch einem rutschen im Homeoffice auch die Wochentage durcheinander, weil sich Arbeitswoche und Wochenende immer ähnlicher werden. Nicht wenige Menschen fragen sich, ob sie ihren Betrieb oder ihr Restaurant in einem Vierteljahr schließen müssen. Wir gehen durch die Fußgängerzone und sehen Plakate, die ein Konzert ankündigen, das in der Vergangenheit liegt und nie stattgefunden hat.
Aus einer vermeintlichen Zeit der Sicherheit sind wir in eine Periode der Ungewissheit gerutscht. Die Zeitspannen, für die wir etwas verlässlich planen können, sind auf vier Wochen zusammengeschrumpft, wenn nicht noch kürzer.
traditionen Und ausgerechnet in diesem Jahr rufen wir dazu auf, 1700 Jahre zurückzudenken – an die Anfänge jüdischen Lebens in Deutschland. Und an Pessach sitzen wir am Tisch und erinnern an Ereignisse vor 3000 Jahren. Das passt eigentlich nicht zusammen, oder? Vielleicht passt es auch besonders gut. In einer Periode der Ungewissheit suchen wir nach Sicherheit. Die können wir finden in Traditionen, die schon zig Generationen vor uns getragen haben. Getragen durch weit schwerere Zeiten, als wir sie heute erleben.
Gerade im Judentum spielt Zeit so eine wichtige Rolle. Wenn ein Familienmitglied stirbt, gibt es eine vorgeschriebene Zeit der Trauer. So wird einerseits der Verstorbene geehrt, andererseits wird dem Trauernden Zeit gegeben, den Verlust zu verarbeiten. Ein Trauernder darf sich sozusagen in einen privaten Lockdown zurückziehen, wird dort jedoch nicht alleingelassen, sondern erhält Unterstützung.
Wir kennen das Omer-Zählen. Jeder Tag der 49-tägigen Omer-Zeit wird gezählt in Erinnerung an vergangene Katastrophen unseres Volkes. Und wir verzichten in dieser Zeit auf Musik und auf Hochzeiten, freuen uns aber alle auf Lag BaOmer und werfen dann den Grill an (größere Grillfeste werden in diesem Jahr in Israel sicher erlaubt sein, bei uns in Deutschland vermutlich leider noch nicht).
sederabend Zeitläufte sind im Judentum aber auch so wichtig, weil das Gebot, sich zu erinnern, so zentral ist. Am Sederabend lesen wir Texte, die schon vor 1000 Jahren gelesen wurden. Wir essen Mazzen, die nach der Überlieferung unsere Vorfahren schon vor 3000 Jahren gegessen haben, und andere Speisen, die uns an die damaligen Geschehnisse erinnern.
Pessach veranlasst uns dazu, in größeren Zusammenhängen zu denken, in viel weiteren Zeiträumen, als es ein Menschenleben umfasst. Es zeigt uns die Relation zu unserer Gegenwart. Und damit relativiert es auch unsere Gegenwart. Es geht nicht darum, die aktuellen Ängste von in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedrohten Menschen, andere Probleme oder gar den Tod vieler Menschen durch Covid-19 kleinzureden.
Pessach veranlasst uns dazu, in größeren Zusammenhängen zu denken, in viel weiteren Zeiträumen, als es ein Menschenleben umfasst.
Doch unsere Tradition hilft uns, mit Demut auf die Gegenwart zu schauen. Dann stellt sich Dankbarkeit darüber ein, dass wir medizinisch so gut versorgt sind, dass sehr vielen Covid-Patienten geholfen werden kann. Dankbarkeit dafür, dass so schnell Impfstoffe entwickelt wurden.
festjahr Ebenso ist es mit dem Festjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland«. Wenn wir den Blick darauf richten, durch welche Täler des Grauens die jüdische Gemeinschaft immer wieder gehen musste, verändert sich der Blick auf die Gegenwart. Und wir sind dankbar dafür, dass es so ein aktives jüdisches Leben in Deutschland gibt, das – ohne den Antisemitismus ausblenden zu wollen – gerade in diesem Festjahr sehr viel Zuspruch erhält.
Aus der Bibel wissen wir: Es gibt eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen, eine Zeit zum Klagen und eine Zeit zum Tanzen. Das sagt uns: Was wir gerade erleben, ist eben nur eine Periode – ein Abschnitt, der wieder zu Ende geht.
Daher wünsche ich allen Juden in Deutschland und weltweit ein frohes und friedliches Pessachfest voller Zuversicht und Hoffnung! Pessach kascher we-sameach!
Der Autor ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.