Nach der Zerstörung der Synagogen am 9. November 1938 wurde es jedem klar, dass es keine Zukunft für Juden in Deutschland mehr geben könne. Während der kritischen Tage, als die Welle der Verhaftungen hochging, übernachtete ich mit meinem Vater bei meiner Großmutter, wo wir uns sicher fühlten. Aber es war niemand gekommen, um uns zu verhaften.
Berlin war für Juden in dieser Hinsicht wegen der großen Zahl jüdischer Einwohner ohnehin etwas weniger riskant als Orte in der Provinz, wo fast alle Männer verhaftet worden waren. Dazu kam, dass die SA neben unserer Wohnung ihre örtliche Zentrale hatte. Sie belästigten uns niemals und baten meinen Vater nur eines Tages, sein Firmenschild abzunehmen. Manchmal ist es in der Höhle des Löwen am sichersten.
Brandstiftung Es war auch eine Tatsache, dass die Synagogen immer von Ortsfremden angezündet wurden. Sonst hätten sich einige doch vor ihren Nachbarn geschämt. So hörten wir auch zufällig, dass ein Geschäftsfreund und Kunde meines Vaters sich ebenfalls an der Zerstörung einer Synagoge beteiligt hatte. Wir konnten es zunächst nicht glauben, da er uns seit Jahren ausgeholfen hatte und hinter verschlossenen Türen seiner Wut auf die Nazis Ausdruck gab.
Dass Menschen sich auf diese Weise ein Alibi schafften, wirft ein interessantes Licht auf die damalige Zeit und macht so manches Geschehen verständlich. Um es zu glauben, muss man es allerdings miterlebt haben. Es entschuldigt auch nichts und wird auch nicht deshalb berichtet. Aber es zeigt die ganze Gespaltenheit der menschlichen Natur.
Nachdem die Adass-Schule 1938 aufgelöst worden war, machte ich 1940 im Gymnasium der jüdischen Gemeinde in der Wilsnacker Straße das Abitur. Dies war das letzte Gymnasium der Gemeinde, in dem alle jüdischen Privatgymnasien nach der Pogromnacht 1938 aufgegangen waren.
Abitur Unser Abitur, wohl das letzte, das jüdische Schüler vor dem Holocaust noch in Deutschland ablegen konnten, wurde 1940 von einem Schulrat, der mit großem Parteiabzeichen erschien, abgenommen. Ich war kein Glanzschüler, und auch das Abitur fiel dementsprechend aus. Dafür durfte ich aber bei der feierlichen Verabschiedung und Überreichung der Diplome die Ansprache halten. Ich schloss mit einem hoffnungsvollen Ausblick des Propheten Amos (Amos 9,11). Sie war ernst und den Zeitumständen angemessen. Einer meiner Lehrer und ehemaliger Schulfreund meines Vaters meinte, die Rede sei viel zu pessimistisch gewesen.
Ich wurde Student – oder besser Hörer, denn Studenten durften wir uns nicht nennen – an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums. Viele Jahre hindurch hieß sie Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, aber da die Nationalsozialisten ihr den Hochschulcharakter absprachen, nahm sie ihren ursprünglichen Namen wieder an. Aber sie war sicherlich der einzige Ort in Deutschland, wo damals, was die Institution betraf, objektive Wissenschaft geleistet wurde.
Baeck und Täubler Zu meiner Zeit allerdings hatten die meisten der bekannten Wissenschaftler Berlin bereits verlassen. Geblieben waren vor allem Leo Baeck und Eugen Täubler. Täubler, der ehemalige Heidelberger Ordinarius und Assistent Mommsens, Begründer und langjähriger Leiter des Gesamtarchivs der Deutschen Juden und der Akademie für die Wissenschaft des Judentums, war an die Lehranstalt zurückgekehrt und las Bibel und jüdische Geschichte. Baeck dozierte Vergleichende Religionsgeschichte, Grundgedanken des Judentums, Midrasch und Homiletik.
Jeden Freitagmorgen hielt einer der Studenten eine sorgfältig vorbereitete Predigt als Teil des Seminars. Baeck pflegte sie sehr zu loben und anschließend eine neue, verbesserte Form vorzutragen. Amtierende Berliner Rabbiner besuchten diese Übung regelmäßig, um noch Anregungen für die sabbatliche Predigt am nächsten Morgen zu erhalten.
Als ich an der Reihe war und mit sichtlicher Nervosität meine erste Probepredigt von mir gab, meinte Baeck: »Mein lieber junger Kollege, Sie haben eine sehr gute Aussprache. Aber warum müssen Sie alles sagen, was Sie wissen? Ich könnte aus Ihrer Predigt mit Leichtigkeit zehn andere machen.« Bei Baecks sprichwörtlicher Höflichkeit war das eine vernichtende Kritik, über die ich nicht so bald hinwegkam.
Lange Wege Im Herbst 1940 bat ich Baeck um Erlaubnis, anlässlich der kommenden Hohen Feiertage bei den Jugendgottesdiensten der Gemeinde amtieren zu dürfen. Baeck lehnte ab, und ich erhielt eine typische Baeck-Antwort: »Mein lieber junger Kollege, der kurze Weg ist der lange Weg, und der lange Weg ist der kurze Weg.« Trotzdem ergab sich für mich die Gelegenheit, bei den Gottesdiensten der Synagogengemeinde Berlin-Weißensee den Rabbiner Heinz Meyer einen Monat zu vertreten und auch an den Hohen Feiertagen zu amtieren.
Es ist für mich schwer, über meine damalige Verfassung und die Atmosphäre in der Lehranstalt zu berichten. Aus heutiger Sicht erscheint alles so unwirklich, so gespenstisch. Denn, wenn ich über diese Zeit Rechenschaft ablegen soll, dann muss ich sagen, dass ich glücklich war. Nicht nur, dass ich mich immer danach gesehnt hatte, einmal Student an der Lehranstalt zu sein, bei Baeck Vorlesungen zu hören, mich auf den Beruf eines Rabbiners vorzubereiten – ich habe nie wieder in meinem Leben inmitten einer solchen Gruppe Gleichgesinnter so gut und zielstrebig arbeiten können.
So sehr hing ich an diesem Rabbiner, an den anderen Dozenten, den Kommilitonen, dass ich 1941, als die Möglichkeit der Auswanderung endlich gegeben war, ernstlich meinte, nicht mehr weggehen zu müssen. Da war Baeck eisern: »Sie müssen
gehen!« Das sagte der Mann, der sich weigerte, das sinkende Schiff zu verlassen.
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Auszüge aus Nathan Peter Levinson: »Ein Ort ist, mit wem du bist«. Edition Hentrich, Berlin 1996