Frau Selivon, Sie arbeiten als psychosoziale Beraterin bei der Zentralwohlfahrtsstelle (ZWST) und beraten Geflüchtete aus der Ukraine. Wie geht es den Menschen nach einem Jahr in Deutschland?
Die Ukrainer stehen heute leider immer noch unter Stress. Es handelt sich zwar um einen anderen Charakter und eine andere Form von Stress als vor einem Jahr, aber er ist immer noch da und wirkt sich sowohl auf die psychische als auch auf die körperliche Verfassung aus. Als Beispiel gebe ich folgendes Bild: Auf der Straße geht eine Frau mit einem Rucksack, von dem abgerissene Wurzeln herabhängen, die unbedingt Pflege und Fürsorge brauchen.
Was hilft?
Ich kann mit Zuversicht sagen, dass jede Art von Hilfe des Staates Deutschland und der Menschen, die sich für die Geflüchteten engagieren, diese Situation erleichtert. Ich bin aber auch sehr beeindruckt, wie außerordentlich sich die meisten Ukrainer bemühen, die Sprache zu lernen, sich für Bereiche interessieren, in denen sie sich entwickeln und arbeiten können.
Was genau machen Sie in den Projekten?
Meine Kollegen und ich bieten eine Psychosoziale Unterstützung an. Unser jüngster Hilfesuchender ist 17 alt, der älteste 96 Jahre. Sie alle haben viele Anliegen, die sie mit uns besprechen wollen. Aufgrund des Alters, der persönlichen Situation sind ihre Fragen ganz verschieden. Wichtig ist es, mit den Geflüchteten aus der Ukraine zu klären: Wer bin ich? Wo bin ich? Was kann ich für mich selbst tun oder wo kann ich Hilfe bekommen? Welche Stärke habe ich, um das Erlebte zu verarbeiten und weiter meine Zukunft aufzubauen? Es hilft, Pläne für den Tag, die Woche, diesen Monat und dieses Jahr zu machen.
Welche Situationen sind herausfordernd?
Etliche können sich nicht wirklich dafür begeistern, die deutsche Sprache auf einem angemessenen Niveau zu lernen, damit es eine Chance gibt, einen guten Job zu finden. Sie müssen verstehen, wie die Struktur vieler Systeme im Staat – von Gesundheitsversorgung, Bildung, Umschulung über Anerkennung der eigenen Rechte und Verpflichtungen – funktionieren. Dazu zählt auch die Wichtigkeit und Notwendigkeit der Kommunikation mit den Deutschen und den schon länger hier Lebenden. Das alles braucht Zeit und Energie.
Welchen Traumata begegnen Sie?
Es gibt viele Themen, mit denen wir uns täglich beschäftigen. Darunter natürlich die verschiedenen Arten von Ängsten, vor allem die vor der Zukunft. Aber auch Schuldgefühle, depressive Episoden, Unplanbarkeit, Konzentrationsprobleme, Psychosomatik, Berufsorientierung, Akzeptanz seiner selbst, persönliche Krisen und Konflikte sind immer wieder aktuell. Natürlich geht es auch immer darum, wie man es schaffen kann, eine Balance herzustellen.
Wie sieht die Zukunft in Sachen Beruf aus?
Viele Geflüchtete müssen jetzt leider erkennen, dass sie in ihrem ursprünglichen Beruf nicht mehr arbeiten können, obwohl sie hoch qualifiziert sind. Sie müssen eine neue Richtung einschlagen, was nicht leicht ist und oft Angst macht.
Wie geht es Ihnen persönlich?
Mir geht es besser als vor einem Jahr. Ich bin in Sicherheit und umgeben von guten Menschen. Es ist schwer zu verstehen und zu akzeptieren, was passiert ist. Es gibt verschiedene Phasen, die man durchlaufen muss, und das ist nicht einfach, aber ich bin sicher, dass jeder von uns eine Ressource hat, um damit umzugehen.
Haben Sie die Chance, sich unter Kollegen auszutauschen?
Ja. Aber ich hätte auch gerne die Möglichkeit, an mehrtägigen Seminaren für Kollegen aus der Ukraine teilzunehmen.
Sie sind vor einem Jahr mit Ihren Eltern aus Kiew geflohen. Was gibt Ihnen Kraft?
Das Wissen, das ich während des Studiums der klinischen Psychologie und meiner persönlichen Therapie erhalten habe. Schließlich habe ich in einem bestimmten Abschnitt meines Lebens das Tätigkeitsfeld gewechselt. Sieben Jahre habe ich als Juristin gearbeitet und erst dann bin ich in die Psychologie eingestiegen, ich habe es nie bereut. Viel Kraft gibt mir die Kommunikation mit Menschen, die mir nahe am Herzen sind. Einige leben in der Ukraine, einige hier und weitere in anderen Ländern. Kraft gibt mir auch das Verständnis, was ich brauche, um für mein persönliches Gleichgewicht zu sorgen. Hier bin ich auch der Psychologie dankbar.
Das Gespräch führte Christine Schmitt.