»Ich kann doch nach Deutschland reisen. Nehmt ihr mich auch mit Krückstock?« Eine besondere E-Mail, die da im Herbst 2015 im Posteingang der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Siegerland landete. Sie ist von Alisa Tennenbaum, einer Zeitzeugin des NS-Regimes. Die 86-Jährige teilte mit, dass sie die Folgen eines Unfalls vor ein paar Monaten gut verkraftet hat und reisefähig ist. Ihr achter Besuch im Siegerland würde es sein.
Die Freude über ihre Ankündigung ist riesengroß. Bald wird es keine Möglichkeit mehr geben, Menschen zuzuhören, die von ihren Erlebnissen aus den dunklen Jahren deutscher Geschichte berichten können.
Termine Nun geht es an die Planung ihres Besuchs. Acht Tage wollen Alisa Tennenbaum und ihre Tochter Batel bleiben. Finanzielle Mittel stellt die Stadt Siegen über das Bundesprogramm »Demokratie Leben!« schnell und unkompliziert zur Verfügung. Alisa Tennenbaums Terminkalender füllt sich rasch: Zwei Termine am Tag will sie schaffen. Eine stramme Leistung, wenn man bedenkt, dass sie jeweils eineinhalb Stunden voller Inbrunst spricht und sich anschließend alle Zeit der Welt für Fragen nimmt.
Ihre Botschaft richtet sie vor allem an Jugendliche. Es stehen ein Besuch des Gymnasiums in Weidenau, im Berufskolleg AHS Siegen und zwei Treffen in der Realschule am Oberen Schloss auf ihrem Programm. Außerdem spricht sie bei öffentlichen Veranstaltungen in der Aula des Lyz, in der weißen Villa in Kreuztal und im Gemeindesaal der Evangelischen Kirche in Eisern.
Viele der Jugendlichen verfolgen ihre Erzählung konzentriert und Wort für Wort. »Hatten Sie oft Angst?« und »Wie war das für Sie im Kinderheim in England, ohne die Sprache sprechen zu können?« lauten die meistgestellten Fragen nach jedem Vortrag. Wie viel lebendiger ist doch ihr Bericht im Vergleich zu den sachlichen, oft nicht greifbaren Aussagen eines Schulbuchs, meinen die Schüler. Die Authentizität ist für die jungen Zuhörer von unschätzbarem Wert.
Schmähungen Rund 500 Menschen, hauptsächlich Jugendliche, hat Alisa Tennenbaum im Laufe dieser einen Woche in Siegen mit ihrer Botschaft erreicht. Es ist ein Bericht über Schmähungen, denen sie als Jüdin ausgesetzt war. Ein Bericht über leidvolle Situationen, nicht wissend, wie es ihrem Vater im Konzentrationslager in Dachau geht und ob ihre Mutter noch lebt. Ein Bericht über ihre Ausreise mit dem letzten Kindertransport von Wien nach England, ohne auch nur eine ihrer Mitreisenden zu kennen.
Ihre Geschichte hatte glücklicherweise, trotz aller Bedrängnis, ein Happy End. Alisa Tennenbaum ist eines der wenigen Kinder, dem beide Elternteile geblieben sind. Das verleiht ihr wohl auch die Kraft, sich immer wieder den Strapazen der anstrengenden Reisen nach Deutschland auszusetzen und immer wieder besonders die Jugendlichen im Blick zu haben.
Auf die Frage, warum sie das alles auf sich nimmt, lautet ihre klare Antwort: »Damit so etwas nie wieder geschieht. Keinem Menschen. Egal welche Religion oder Herkunft er hat.«
Einer der persönlichen Höhepunkte ihrer Reise war die Teilnahme an der Schabbatfeier im Büro der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Hier konnte sie einfach feiern und alte Freunde treffen. Kommt sie im nächsten Jahr wieder? »Wenn ich gesund bin«, antwortet sie und wirft dabei einen fragenden Blick auf ihre Tochter Batel. Das wäre dann bereits der neunte Besuch im Siegerland. Den Krückstock hat sie übrigens am Tag vor ihrer Abreise abgelegt. »Das Ding ist viel zu sperrig im Aeroplane«, sagt sie.