Das große Porträt, das im Leo- Baeck-Haus an der Wand hängt, zeigt den Rabbiner im Jahr 1950. Baeck war damals 77 Jahre alt, sein Blick durch die Brille ist ruhig, der Kopf ein wenig geneigt: Die Fotografin Laelia Goehr hatte ihn etwas von der Seite aufgenommen.
Am Dienstagvormittag steht diese Schwarz-Weiß-Fotografie, an der der Alltag sonst vorbeizieht, im Mittelpunkt des Geschehens. Unter ihr stellen sich Deborah Lipstadt, Doug Emhoff und Abraham Lehrer auf, um genau diesen Moment einzufangen. Den Moment, bevor die Antisemitismusbeauftragte des US-Außenministeriums, der Ehemann der US-Vizepräsidentin Kamala Harris, der sich in den sozialen Medien selbst »Second Gentleman« nennt, und der Vizepräsident des Zentralrats der Juden den Raum wechseln werden, um unter einem anderen Bild Platz zu nehmen. Dem von Ignatz Bubis, der von 1992 bis 1999 Präsident des Zentralrats war.
gemeinsam Am Tisch warten bereits Vertreterinnen und Vertreter der drei großen Religionsgemeinschaften: unter anderem Zentralratsgeschäftsführer Daniel Botmann, Militärbundesrabbiner Zsolt Balla, die Geschäftsführerin der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover, Rebecca Seidler, die Berliner Rabbinerin Gesa Ederberg, Prälatin Anne Gidion und der Publizist Burak Yilmaz. Sie alle wollen miteinander reden: über den Kampf gegen Antisemitismus, über interreligiöses Netzwerken, über Strategien, um miteinander stark zu sein. Denn, so wird es Emhoff zusammenfassen: »Antisemitismus ist nicht nur eine Bedrohung für Juden, es ist eine Bedrohung für uns alle.«
Abraham Lehrer nimmt die Gäste in seinen Grußworten noch einmal kurz mit zur Fotografie von Rabbiner Leo Baeck: »Wir sind in dem Haus, das den Namen von Leo Baeck trägt, der vor 150 Jahren geboren wurde. Vor 80 Jahren wurde er in ein Konzentrationslager deportiert.« Und er zitiert den Rabbiner, der zu Beginn seiner Karriere »den jüdisch-christlichen Beziehungen eher skeptisch« gegenüberstand.
Später jedoch machten ihn Sätze wie »Was wir am Mitmenschen tun, ist Gottesdienst« zu einem Befürworter für den Dialog. »Wir, der Zentralrat der Juden, versuchen, das in unseren Beziehungen zu den christlichen Kirchen, zu muslimischen Gemeinschaften und zu anderen Konfessionen umzusetzen«, betont Lehrer.
struktur Er wird den beiden »wissbegierigen Besuchern, die nach Deutschland gekommen sind, um aus erster Hand von uns zu hören, wie es um das Verhältnis zwischen den großen Religionsgemeinschaften und wie es um Antisemitismus steht«, erklären, dass die »katholische und die evangelische Kirche gute Freunde der jüdischen Gemeinschaft« sind, dass es einen »regen interreligiösen Dialog, Festivitäten« gebe. Ferner gebe es auch eine »Struktur, falls es zu großen Meinungsverschiedenheiten« kommen sollte.
Die Beziehung zur muslimischen Glaubensgemeinschaft »steht noch sehr am Anfang«, sagte Lehrer. Man arbeite zwar auf niedrigschwelliger Ebene zusammen, »mit den Vorsitzenden der Gemeinschaft gestaltet es sich etwas schwieriger. Wir sind gewillt, eine Zusammenarbeit zu entwickeln, aber es ist nicht einfach«.
Doug Emhoff glaubt an die Kraft des interreligiösen Dialogs. Er sei Teil der Lösung, sagt er. »Neue Beziehungen aufbauen, Stereotype aufbrechen. Wir möchten das in enger Zusammenarbeit mit den deutschen interreligiösen Gemeinschaften machen. Davon muss es aber mehr geben.« Solange er diese Möglichkeit habe, werde er alles dafür tun, die Gruppen zusammenzubringen.
hass Antisemitismus werde, erläutert der 58-Jährige, von anderen Formen des Hasses begleitet: »Hass gegenüber anderen Ethnien, Religionen, Immigranten, der LGBTQI-Community.« Und: »Eine Bedrohung für eine Gemeinschaft ist eine Bedrohung für alle Gemeinschaften.« Präsident Joe Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris seien fest entschlossen, »diesen Hass zu bekämpfen – nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten«.
»Antisemitismus ist eine Bedrohung für alle.«
Doug Emhoff
Fast eine Stunde sollte Emhoff im Gespräch mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern sein. Zentralratsgeschäftsführer Daniel Botmann ging mit hohen Erwartungen in die Runde, denn »Antisemitismus ist ein Phänomen, das uns über Grenzen hinweg betrifft. Gerade die demokratischen Gesellschaften müssen zusammenstehen und gemeinschaftlich überlegen, wie wir effektiv gegen Antisemitismus vorgehen und agieren können«. Enttäuscht wurden sie nicht: »Der Second Gentleman und Ambassador Lipstadt waren sehr interessiert an unseren Perspektiven.«
Besonders gefreut habe ihn »der Austausch und das Bekenntnis zur Religionsfreiheit, das für die amerikanische Regierung von höchster Bedeutung ist. Sinnbildlich dafür war auch die Teilnahme von Ambassador Rashad Hussain, der den US-Präsidenten in allen Fällen der Religionsfreiheit berät«.
miteinander »Dass alle Religionen mit an einem Tisch sind, ist enorm wichtig, denn es gibt in allen Communitys Antisemitismus, und von daher können wir auch das nur gemeinsam bewältigen«, resümiert Rebecca Seidler. Genau dieses Miteinander habe der Geschäftsführerin der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover aufgezeigt, dass man sich »gemeinsam einem Ziel annähern« könne.
»Das schafft Hoffnung und Zuversicht«, betont Seidler, die auf einen Schwerpunkt der Runde einging, nämlich die »rasante Verbreitung von Hass und Hetze durch soziale Medien oder auch die Alltagsrealität von jüdischen Kindern und Jugendlichen in Deutschland, die noch oft aus Eigenschutz ihre jüdische Identität im Kontext Schule verheimlichen«
Militärbundesrabbiner Zsolt Balla ist »überzeugt, dass der multireligiöse Dialog in Deutschland schon gut funktioniert«. Bereits am Montag hatte der 43-Jährige »ein sehr gutes Gespräch mit seiner Exzellenz, dem Botschafter für religiöse Freiheit, Rashad Hussain«, sagte Balla der Jüdischen Allgemeinen. »Wir müssen untereinander wissen, dass wir nicht allein sind. Antisemitismus, Extremismus und Hass gegen Minderheiten, das ist kein jüdisches Problem, das ist ein gesellschaftliches Problem.«
signal Auch für den Autor Burak Yilmaz ist dieses interreligiöse Treffen sehr wichtig: »Gerade in Zeiten, in denen die Gesellschaft gespalten ist.« Dass Menschen an einem Tisch zusammenkämen, »die sich im Alltag vielleicht nicht so häufig begegnen, ist ein gutes Signal. Solche Dialoge und solche Plattformen sind momentan von enormer Bedeutung«.
Für Emhoff ist die Reise nach Europa auch eine Reise in die Familiengeschichte. »Ich denke an meine Urgroßeltern, die vor 120 Jahren aus dem damaligen Polen geflüchtet sind. Sie konnten ihren Traum in den USA leben. Sie hatten Glück, hatten die Möglichkeit, hatten Freiheit. 120 Jahre später ist ihr Urgroßenkel der erste jüdische Mann der US-Vizepräsidentin, der daran arbeitet, Hass und Antisemitismus zu bekämpfen.«
Während Emhoff diese Worte spricht, warten wenige Meter weiter ukrainische Geflüchtete in der Neuen Synagoge – Centrum Judaicum auf seinen Besuch. Gemeinsam mit Rabbinerin Gesa Ederberg wird er auch dort mit anderen ins Gespräch kommen. »Als Synagogengemeinde haben wir 50 Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen.« An der Masorti-Grundschule gibt es zwei Willkommensklassen. Ihr liegt viel daran, Emhoff zu zeigen, dass das Judentum in Deutschland lebendig ist. Er wird es hören, sehen und mit zurück in die USA nehmen.