Wir wollen die Grenzen jiddischer Kultur neu definieren», sagt Alan Bern. Er ist der Leiter des «Yiddish Summer Weimar», dem internationalen Festival jiddischer Kultur. Am vergangenen Wochenende wurde dieses deutschlandweit größte Festival eröffnet. Diesmal steht es unter dem Motto «New Yiddish Culture». «Eigentlich hatten wir vor, in jedem Jahr ein neues Thema zu bearbeiten», so Bern. Stattdessen hatten Gäste wie Künstler das Gefühl, Themen des Vorjahres intensivieren zu wollen. «Seit vier Jahren geht das nun schon so», erklärt Bern.
Eine wie auch immer geartete Wiederholung vorangegangener Jahre war der erste Tag des diesjährigen Festivals jedoch nicht, eher eine Fortsetzung. Dennoch war die Stimmung im Gebäude der Other Music Academy seltsam vertraut. Gelöst und heiter, die Lieder voller Sehnsucht und Kraft. Gewidmet war der Eröffnungstag Chana Mlotek, der im vergangenen Jahr gestorbenen Musikwissenschaftlerin und Archivarin jiddischer Lieder. In der Szene galt sie als Sherlock Holmes für das Finden jiddischer Lieder in beinahe vergessenen Archiven.
ERINNERUNGEN Für Yoshua Waletzky, dem Sänger aus New York, ist Chana Mlotek mehr als die Archivarin der alten Lieder. «Meine Mutter hat all ihre Bücher illustriert, unsere Familien waren eng verbunden», erzählt er am Rande des Eröffnungskonzerts. Dann geht er mit Alan Bern auf die kleine Bühne. Sein Gesang ist ein Schluchzen. Das Akkordeon Berns trägt den Sänger weiter.
Hier sind zwei auf der Bühne, denen man gern länger zuhören möchte. Dazu wird in Musikgruppen – in verschiedenen Zusammensetzungen – während des Festivals noch ausreichend Gelegenheit sein. Außerdem werden die Künstler an verschiedenen Orten in Weimar musizieren. Am kommenden Samstag wollen sie das Ergebnis ihres Liedworkshops in einem Konzert an der Weimarer Musikhochschule präsentieren.
Mit dabei ist auch Andrea Pancur, die Erfinderin des Alpenklezmer aus Bayern. Sie wirkt in diesem Jahr besonders locker. Das mag daran liegen, dass sie wenige Tage zuvor während des internationalen Rudolstädter Folkfestivals die RUTH, den Rudolstädter Weltmusikpreis, für ihren Alpenklezmer erhalten hat. Dieser Preis wird an Künstler verliehen, die neue Maßstäbe in der Folkmusik setzen. Das gelingt der 45-Jährigen nicht nur mit dem Alpenklezmer. Gemeinsam mit dem lettischen Multi-Instrumentalisten Ilya Shneyveys geht sie mit ihrem Projekt «Jazz meets Klezmer» neue stilbildende Wege. Davon können sich die Yiddish-Summer-Gäste während der Festivalwoche vom 5. bis zum 9. August überzeugen.
FESTIVALWOCHE Dann nämlich tritt die Sängerin mit ihrer starken Stimme gemeinsam mit Franka Lampe (Akkordeon), Johannes Grässer (Geige) und Alex Hass (Bass) als «modern klezmer quartet» auf. Ihr Konzert nennen sie das «Schostakowitsch-Projekt». Das Quartett der national wie international bekannten Künstlerinnen und Künstler verbindet Klezmer mit Klassik. Die Künstler haben Schostakowitschs «Volkslieder aus jüdischer Poesie» aus dem Jahr 1948 bearbeitet und in Archiven nach jiddischen Originalen recherchiert. Hilfe gab es auch hier bei Chana Mlotek, an die sich Andrea Pancur gewandt hatte.
Die Festivalwoche des Yiddish Summer ist eine Premiere. Und sie wird mit den herausragenden Stimmen und Instrumentalisten ganz sicher für ein volles Haus in der «Other Music Academy» sowie an anderen Spielstätten Weimars sorgen.
Das Festival mit der besonderen Stimmung ist längst in der Stadt angekommen. Mit dem Motto «New Yiddish Culture» geht das Programmangebot diesmal weit über jiddische Lieder hinaus. Unter anderem gibt es eine Josh-Waletzky-Filmreihe. Der Dokumentarfilmer aus New York wird also beim Weimarer Festival nicht nur singen. Er stellt außerdem sein Porträt über Beyle Schaechter Gottesman vor. Herbstlied heißt der 80-minütige Streifen. Ebenfalls während der Festivalwoche geplant sind Tänze, ein Ball sowie «Jiddisch Kochen».
SINGALONG «Das Herzstück unseres Festivals bleiben aber die Arbeitsgemeinschaften», versichert Alan Bern. Da seien die eigenen künstlerischen Entdeckungen und Entwicklungen besonders gut zu erkennen. Während des Festivals werde das dokumentiert. «Die Other Music Academy soll ein Ort sein, in dem die drei Bereiche des menschlichen Tuns berücksichtigt werden: die künstlerische, die wissenschaftliche und die soziale Seite», erklärt Bern.
Da passt das Angebot von «Singalong» hervorragend ins Konzept. Die Profis auf der Bühne spielen und singen gemeinsam mit dem Publikum. Dieses nimmt das Angebot ebenso dankbar an wie die Aufforderung zum jiddischen Tanz. Bern rechnet während der 45 Veranstaltungen mit mindestens 5000 Besuchern. Viele Angebote sind kostenlos und finden verstreut in ganz Weimar statt – vom Kaffeegeschäft bis zu einer Buchhandlung.
Unter anderem gibt es Jamsessions, also improvisierte Geschichten, Märchen, Fantasien und Witze rund um das Meer. Vielleicht ist genau dieses ständige Verweben mit dem Publikum, das Einbeziehen der Weimarer und ihrer Gäste das Geheimnis der besonderen Atmosphäre dieses einzigartigen Festivals. Und die Grenzen jiddischer Kultur sind damit noch lange nicht sichtbar.
www.yiddishsummer.eu