Ein »Meschuggener« sei er, hat ihm der Urenkel eines Rotenburger Juden einmal gesagt – in aller Öffentlichkeit, und es war als Kompliment gemeint. Seit Jahrzehnten macht sich Heinrich Nuhn um die Aufarbeitung der jüdischen Geschichte im nordöstlichen Hessen verdient.
Und auch jetzt mit seinen 82 Jahren tut der promovierte Zeithistoriker und pensionierte Lehrer dies immer noch mit derart nimmermüdem Einsatz, dass es scheint, es könnte ihn nichts und niemand davon abbringen. Nicht das Alter. Und erst recht nicht die rechten Pöbler, die ihm in der Kleinstadt an der Fulda wegen seines Engagements immer wieder Drohbriefe schreiben.
Heinrich Nuhn will gegen eine Verharmlosung der Nazis »anforschen«.
Schließlich hat ihn einer von jenen erst zu seinem Lebensthema geführt: In den frühen 90er-Jahren veröffentlichte ein Mann aus Rotenburg seine Kindheitserinnerungen an den Nationalsozialismus. Tenor: Alles halb so wild, niemand habe von der Judenvernichtung gewusst, und den örtlichen Juden sei sowieso nichts passiert. »Ich hatte Sorge, dass die Zeitgeschichte im falschen Sinne geschrieben ist«, sagt Nuhn. Er habe sich in der Pflicht gesehen gegenzusteuern.
Kaiserreich Schon während seines Studiums hatte er sich mit dem politischen Antisemitismus in der Region beschäftigt. Er wusste, dass die Antisemitenparteien des Kaiserreichs nirgends so erfolgreich gewesen waren wie hier. Und dass schon 1932 die absolute Mehrheit der Wähler in den damaligen Landkreisen Rotenburg, Ziegenhain und Hersfeld für die NSDAP stimmte. Später war Hersfeld die erste Stadt in Nazi-Deutschland, deren Synagoge in der Pogromnacht 1938 vollständig zerstört wurde.
Zu behaupten, dass sich Nuhn in die selbst gestellte Aufgabe hineingekniet hätte, wäre gehörig untertrieben. Er begann zu forschen, allein und gemeinsam mit Schülern in der von ihm gegründeten »AG Spurensuche«. Er veröffentlichte Artikel und Bücher, konzipierte Ausstellungen. »Schulferien waren Archivferien«, erinnert sich Nuhn. Seit er pensioniert ist, habe er seine Heimatstadt Rotenburg fast nur noch verlassen, um Archive zu besuchen. »Ich wäre unglücklich«, sagt er selbstironisch, »wenn ich weiteren Hobbys frönen müsste.«
Auszeichnungen Der unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz und dem German Jewish History AwarHersfeld war die erste Stadt in Nazi-Deutschland, deren Synagoge in der Pogromnacht 1938 zerstört wurde.d ausgezeichnete Historiker war maßgeblich daran beteiligt, dass die jahrhundertelang genutzte Mikwe der Rotenburger Juden wiederentdeckt und als Herzstück eines regionalen Judaica-Museums erhalten blieb. Nuhn leitet es bis heute. Über die Jahre hat er viele persönliche Kontakte zu Juden geknüpft, die von den Nazis aus der Region vertrieben wurden, zu ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln überall auf der Welt. Hat sie – gemeinsam mit seiner Ehefrau Inge, das zu betonen, ist ihm wichtig – immer wieder eingeladen und beherbergt.
Linde Weiland aus Fulda nennt Nuhn einen »Gerechten«, »lobenswert über alles«.
Spricht man Linde Weiland, die langjährige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Fulda, auf das Wirken Nuhns an, sprudeln die Lobesworte nur so aus ihr heraus. Ein »Gerechter« sei er, sagt sie, »lobenswert über alles«. Er habe den Menschen die Augen geöffnet, habe ihnen gezeigt, dass Juden auch auf dem Land, in den Dörfern dazugehörten, Nachbarn, Bürger waren.
»Er will die Indoktrination des ›Tausendjährigen Reichs‹ brechen, die innerfamiliär immer noch weitergegeben wird«, sagt Weiland. »Und er schafft das.« Auch Esther Haß, Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Kassel, beobachtet mit großem Wohlwollen, was Nuhn in Rotenburg auf die Beine stellt. »Es geht darum, so viele Informationen wie möglich über die NS-Zeit zu bekommen«, sagt Haß.
Nuhn will jedoch nicht allein dazu seinen Beitrag leisten. Juden treten in seiner Geschichtsschreibung nicht nur als Opfer von antisemitischer Verfolgung und Schoa auf, sondern auch und vor allem als Menschen, die das Leben in der Region mit ihren wirtschaftlichen und kulturellen Leistungen jahrhundertelang mitprägten.
In seinem jüngsten Buch zeichnete er unter dem Titel Sie waren unsere Nachbarn die Geschichte und die Geschichten der meisten jüdischen Familien aus der Kreisstadt Hersfeld detailliert nach, bis hin zu ihren Nachkommen, die heute in Israel, den USA, England oder Südafrika leben.
Rotenburg Derzeit schreibt er an einer noch ausführlicheren Dokumentation für Rotenburg. Und für einen – selbstverständlich von ihm initiierten – Schaukasten am Eingang des jüdischen Friedhofs seiner Stadt entwickelte er eine Karte, die die einstige Gegenwart jüdischen Lebens in der Region deutlich macht. 52 Orte im heutigen Landkreis Hersfeld-Rotenburg sind darauf verzeichnet, jeweils mit der ältesten dort bekannten Familie. Nur in wenigen anderen Gegenden Deutschlands, erklärt Nuhn, habe es derart viele jüdische Dorfgemeinden gegeben wie im nordöstlichen Hessen.
Die Nachkommen der Hersfelder Juden leben heute in Israel, den USA, England oder Südafrika.
»Zu Fuß kam man hier spätestens nach anderthalb Stunden in den nächsten Ort mit einer jüdischen Gemeinde.« Bis die nationalsozialistische Verfolgung dem ein Ende setzte. Unermüdlich arbeitet Heinrich Nuhn weiter und immer weiter und lässt sich dabei auch von der Corona-Pandemie nicht ausbremsen. Im Gegenteil, sagt er und lacht sein freundliches Lachen: »Ich bin Corona-Nutznießer – selten konnte ich wochen- und monatelang so konzentriert und ungestört arbeiten.« Ein Meschuggener eben, im allerbesten Sinne.
Heinrich Nuhn: »Sie waren unsere Nachbarn. Hersfelds jüdische Familien«. Verlag AG Spurensuche, Rotenburg 2019. 300 S., 20 €