Ein Security-Mitarbeiter steht am Eingang des Pfefferbergs und beobachtet das Geschehen auf dem Gelände. Dass sie Sicherheitskräfte für ein Fachsymposium engagieren muss, habe sie nicht erwartet, sagt Marina Chernivsky vom Kompetenzzentrum der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST). So etwas habe sie noch nie erlebt. Allerdings habe es im Vorfeld Anfeindungen gegeben.
Neonazis hatten am Jahrestag der Pogromnacht eine Liste mit jüdischen Einrichtungen ins Internet gestellt. Auch die ZWST stand darauf. So wurde nicht nur Sicherheitspersonal eingestellt, sondern auch der Veranstaltungsort von der Website entfernt.
Schimpfwort Den Weg in den Pfefferberg finden dennoch viele Interessierte. Einige haben in einem Seminarraum im ersten Obergeschoss Platz genommen, um mit Marina Chernivsky die Frage zu diskutieren, wie Jüdischsein heute wahrgenommen wird und warum »Jude« oft als Schimpfwort gebraucht wird. Im Kreis begegnen sich Juden und Nichtjuden, darunter Studenten, Erzieher, Lehrer und Wissenschaftler, Anfang 20- und über 50-Jährige.
Eine Teilnehmerin erzählt von ihrem 18-jährigen Sohn, der ein Gymnasium in Hessen besucht. Sie habe ihn einmal gefragt, ob Jude an seiner Schule als Schimpfwort benutzt werde. »›Ja klar‹, hat er zu mir gesagt«, berichtet die Mutter. Darüber werde nicht nur lautstark diskutiert, auch körperliche Auseinandersetzungen habe es deshalb bereits gegeben. Dass er Jude ist, beschäftige vor allem die muslimischen Schüler in seiner Klasse. Ihr Sohn spreche die antisemitischen Vorfälle allerdings direkt an. »Er hat keine Hemmungen, da aggressiver zu reagieren.«
Dass solche Streitigkeiten heute zum Schulalltag gehören, bereite ihr Angst. Andere jüdische Teilnehmer berichten, dass ihr Jüdischsein in der Regel überhaupt kein Thema darstellt. Das ändere sich jedoch, sobald die Religionszugehörigkeit zu Wort komme. Oftmals werde dann erstaunt nachgefragt: »Ach was, du bist Jude?«
Polarisierung Dass das Thema Jude solch ein polarisierendes sei, habe sie lange Zeit nicht wahrgenommen, meint Ursula, die als Erzieherin arbeitet. Sie sei Christin, stehe allen Religionen offen und neugierig gegenüber. Über Antisemitismus habe sie sich lange keine Gedanken gemacht. Erst im Gespräch mit jüdischen Kollegen sei sie auf die Problematik aufmerksam gemacht worden. »Ich bin schockiert darüber.«
Die Antworten überraschen Chernivsky nicht. Dass Antisemitismus in Deutschland kein vergangenes Phänomen darstellt, weiß die Psychologin. Sie befasst sich mit dem Thema unter anderem auch im unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus des Deutschen Bundestages. »Die Fallzahl und Qualität antisemitisch motivierter Diskriminierung und Gewalt steigt kontinuierlich«, sagt sie. Allerdings würden die Erfahrungen, die Juden in Deutschland machen, für die nichtjüdische Bevölkerung weitgehend unsichtbar bleiben. Um an diesem Zustand etwas zu ändern, ist 2015 das Kompetenzzentrum unter Trägerschaft der ZWST ins Leben gerufen worden. Es ist in drei Bereichen aktiv, erklärt Marina Chernivsky: in der politischen Bildung, der Stärkung der jüdischen Gemeinschaft und in der Beratung von Personen, die von Diskriminierung betroffen sind. Das Fachsymposium, das nun erstmals in Berlin stattfand, sieht sie als eine wichtige Ergänzung zum bisherigen Angebot. Es bilde einen geschützten Raum, in dem offen gesprochen, Handlungsansätze diskutiert und nächste Schritte konzipiert werden können.
REferenten Als Workshopleiter waren Referenten aus Politik, Kultur, Wissenschaft und Antirassismusprojekten eingeladen. Darunter Thomas Heppener, ehemals Direktor des Anne Frank Zentrums, heute Extremismusexperte des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Volker Beck, Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen, die Fotografin Sharon Adler, die vor 16 Jahren das Frauen-Online-Magazin Aviva-Berlin gegründet hat, das sich für kulturelle Verständigung und gegen Rassismus und Antisemitismus einsetzt, sowie die Autorin und Schauspielerin Lana Chudnovska, die in ihrem Blog »52 Schabbatot« ihrer jüdischen Identität auf den Grund geht.
Juna Grossmann vom Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit befasst sich mit der Frage, ob es erfolgreiche Strategien im Umgang mit Hass im Internet gibt. Benjamin Steinitz informierte über die Arbeit der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) in Berlin, die er gegründet hat.
Zur Eröffnung war auch Benjamin Bloch, Direktor der ZWST, gekommen. Schon im Vorfeld der Veranstaltung machte er deutlich, wie wichtig es sei, über Antisemitismus ins Gespräch zu kommen. »Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus steigen stark an«, sagte er. Das Problem beobachte er weltweit, ob in den USA, Frankreich oder den Niederlanden. Jahrelang sei die Politik nach links ausgeschlagen, »jetzt geht sie nach rechts«. Das Fachsymposium komme zur richtigen Zeit.
Stiftungen »Man muss dem Antisemitismus etwas entgegensetzen«, ist auch Susanne Krause-Hinrichs, Geschäftsführerin der F. C. Flick Stiftung, überzeugt. Die in Potsdam beheimatete Institution unterstützt die Arbeit der ZWST seit vielen Jahren, so auch das Symposium des Kompetenzzentrums, das darüber hinaus auch vom Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend gefördert wird.
Gemeinsam verfolgen die Teilnehmer ein Ziel: Antisemitismus als ein soziales und politisches Phänomen zu betrachten. »Es geht nicht um individuelle Vorurteile«, betont Marina Chernivsky. Viel wichtiger sei es, sich des Phänomens, das jede Gesellschaft betrifft, bewusst zu werden. »Es geht um das Greifbarmachen, nicht um Vorwürfe.« Antisemitismus ist seit Jahrhunderten Thema. Die Juden würden als die »Anderen«, die »Fremden« konstruiert. »Trotz jahrzehntelanger Aufklärung wirkt das ›antisemitische Wissen‹ auch in der Demokratie weiter und bleibt ein Dauerthema in der politischen Öffentlichkeit.«