Rabbiner Lior Inbar (44) heftet den wachen Blick auf sein Gegenüber – auf dessen rechte Hand schräg über dem Kopf, um genau zu sein. Dorthin, wo die Schneide eines Messers blitzt, das der Angreifer in der Hand hält. Blitzschnell hebt Rabbi Inbar die Arme und macht einen Ausfallschritt nach vorn. Dann reißt er die Arme des Gegenübers zur Seite. Die erste Attacke ist damit abgewehrt. Danach gäbe es verschiedene Möglichkeiten, den Angreifer in Sekundenschnelle kampfunfähig zu machen, erklärt Inbar.
»Der Kurs ist Teil eines dreigliedrigen Bildungssystems«, erläutert Rabbiner Inbar und lässt seine trainierenden Schützlinge dabei nicht aus den Augen. Bei den beiden anderen Teilen dieses Systems handle es sich um eine bewusste Gedankenkontrolle im Hinblick auf Sozialverhalten sowie auf positives Denken bezüglich der Zukunft. Maßnahmen, mit denen man das Gute entwickelt und sich gleichzeitig gegen das Böse schützt. In seiner israelischen Heimat vermittelt Rabbi Inbar diese spezielle Form der Bildung bereits Kindern.
Vor drei Wochen war er dazu auch in Berlin, und hatte ein ganz besonderes Publikum: 150 Rabbiner aus ganz Europa und Israel. Sie waren der Einladung des orthodoxen Rabbinical Center of Europe (RCE) zu einer Konferenz in die deutsche Hauptstadt gefolgt. Die Organisatioren hatten den Selbstverteidigungskurs vor dem Hintergrund der aktuellen Sicherheitslage und zunehmender Übergriffe auf Juden ins Programm genommen.
Sparringspartner Rabbiner Inbar will seine Kollegen gegen ganz unmittelbare physische Gefahren wappnen. Dazu steht ihm zunächst der 27-jährige israelische RCE-Mitarbeiter Naftali Felman als Sparringspartner zur Verfügung.
Danach stellen sich Rabbiner aus drei Generationen in zwei Reihen gegenüber auf. Der 87-jährige Imanuel Ravad ist darunter, der 1948 unter dem militärischen Befehl des Oberkommandos von Jerusalem den jungen jüdischen Staat verteidigte. Und der niederländische Rabbiner Daniel van Praag – er ist 43 Jahre jünger –, der vor einigen Jahren in Amsterdam eine bedrohliche Situation erlebt hat.
Tage zuvor hatte er sich in einer TV-Talkshow gegen eine Rückgabe israelischer Territorien an die arabische Seite ausgesprochen. Dann war er auf der Straße erkannt und beschimpft worden. Und das nicht etwa von arabischen Jugendlichen, von denen man Verbalattacken gewohnt sei, sondern von niederländischen Bürgern. Da sei ihm klar geworden, dass er sich über so etwas wie Selbstverteidigung Gedanken machen müsse. Im Übrigen sei das auch eine Mizwa. »Nach den halachischen Gesetzen ist es eine sehr wichtige Sache, sein eigenes Leben zu beschützen«, sagt er. Das gelte selbst dann, wenn am Schabbat irgendeine Gefahr auftrete.
»Da erlauben unsere Gesetze sogar, dass man zur Waffe greift, obgleich man an Schabbat oder den Feiertagen keine Konflikte haben sollte. Aber wenn sie denn auftreten, darf man sein Leben verteidigen.« In diesem Sinne äußert sich auch Rabbiner Menachem Margolin (33), der in Brüssel lebende Gastgeber der Konferenz. »Schon in der Tora findet man die Forderung, dass jeder Mensch sein eigenes Leben schützen muss. Das heißt, man muss sicherstellen, dass man beschützt lebt. Also, das ist der religiöse Aspekt dabei. Schließlich kann man nicht religiös sein, wenn man nicht mehr am Leben ist.«
übungen Rabbiner Lior Inbar wird nun zum Selbstverteidigungscoach und beginnt mit jener Übung, die er mit Naftali Felman bereits eingeübt hat. Die mehr als 70 Rabbiner-Paare mimen abwechselnd Angreifer und Angegriffene. In einem halbstündigen Crashkurs werden ihnen Tricks vermittelt, wie man in konkreten Situationen einen Angreifer unschädlich machen kann. Bei einer Entführung etwa, wenn man von einem großen kräftigen Mann in den Klammergriff genommen wird. Es werden verschiedene Möglichkeiten demonstriert, sich da herauszuwinden.
Danach könnte der Kampf damit enden, dass der Angegriffene zum Angreifer wird und dem Gegner zwei gespreizte Finger in die Augen drückt. Das ist natürlich bei Brillenträgern nicht zu empfehlen. Da bewirken alternativ gleichzeitige Schläge mit den flachen Händen auf beide Ohren auch eine Menge, vor allem wenn sie mit einem Tritt in den Unterleib verbunden sind. Das ist schnell vorgeführt, nun muss es trainiert werden. Natürlich werden die finalen Techniken nur angedeutet.
Dies geschieht meist mit der notwendigen Ernsthaftigkeit – vor allem, wenn eine sehr persönliche Motivation vorliegt, wie bei Rabbi Elie Hayoun. In seinem elsässischen Wohnort Mülhausen machen Araber 40 Prozent der Bevölkerung aus. Nicht jeder von ihnen legt Wert auf eine friedliche Koexistenz mit Juden. Israelische Konferenzgäste sind angesichts der regelmäßigen Messerattacken in ihrer Heimat ohnehin bei der Sache. Es ist aber auch verständlich, wenn es vorwiegend junge Teilnehmer skurril finden, mit einer Waffe auf einen befreundeten Rabbiner loszugehen. Da darf dann auch gelacht werden.
kontrolle Am Ende des Trainings erklärt Menachem Margolin, dass es für diesen Kurs noch einen ganz anderen Grund gibt: »Es ist natürlich wichtig, dass Rabbiner sich im Falle eines Angriffs selbst verteidigen können. Aber es gibt einen zweiten Grund, weshalb wir diesen Kurs durchführen. Viele Regierungen glauben nämlich, wenn sich die Situation nach einem Anschlag oder einem Attentat etwas beruhigt hat, müssten sie die jüdischen Einrichtungen nicht mehr in gleicher Weise beschützen, wie sie das zuvor getan haben.«
Immerhin hätten »150 Millionen von 500 Millionen Europäern antisemitische Einstellungen«. Deshalb seien zu diesem Kurs Medienvertreter eingeladen worden, »um öffentlich zu demonstrieren, dass Juden in Europa berechtigte Sorge um ihr Leben haben und für sie der höchste Schutz zur Verfügung gestellt werden sollte«. Die Regierung des Gastlandes Deutschland nahm er von solchen Vorwürfen explizit aus. Rabbiner Berol Tsisin (48) aus Moskau stellte fest: »Es war ein kurzes Training, aber für mich sehr, sehr wichtig!«