Reut ist geschafft. Wie nach einem Marathonlauf lässt sich die 15-Jährige erschöpft auf das schwarze Sofa im Berliner Jugendzentrum Olam fallen. Der rotblonde lockige Zopf fliegt beschwingt hinterher. Mit einem lauten »Uff« atmet Reut aus.
Einen richtigen Satz bekommt die Schülerin noch nicht heraus. So anstrengend war der Vormittag, zu heiß war es – nicht nur draußen, auch der Kopf hatte ganz schön zu tun. Denn Reut ist eine von insgesamt 16 Jugendlichen, die am vergangenen Dienstag aus ganz Europa nach Berlin gekommen waren, um die Prüfung für das »Naale«-Programm zu absolvieren. Sie alle haben ein Ziel: ihr Abitur in Israel abzulegen.
Und Naale möchte den Jugendlichen dabei helfen. Das Programm, mit dem Teenager ab 15 Jahren drei beziehungsweise vier Jahre an einer Oberschule in Israel verbringen und dort auch das Abitur ablegen können, wird vom israelischen Bildungsministerium unterstützt.
Die Bewerber müssen nicht zwingend Hebräisch sprechen, aber neben Wissenstests vor allem psychologische Prüfungen absolvieren. Denn selbst der coolste Teenager kann während der drei oder vier Jahre auch einmal Heimweh bekommen. Weil die persönliche Reife der Jugendlichen ebenso wichtig ist wie Mathematik- oder Englischkenntnisse, sind auch Psychologen nach Berlin gekommen, um die Kids besser einschätzen zu können.
Team »Wir hatten einen Psychologen im Team, der Italienisch, und zwei Kollegen, die Deutsch sprechen«, sagt Chaim Meyers, Naale-Direktor für die westliche Welt. Es sei natürlich immer eine Herausforderung, Jugendliche mit drei verschiedenen Muttersprachen zu prüfen, aber dank seines Teams sei der Tag gut verlaufen, erzählt Meyers. Erfahrungsgemäß bestünden etwa 70 Prozent die Prüfung. Das könnte, mutmaßt Meyers, auch in Berlin der Fall sein. »Zwölf der 16 werden angenommen«, sagt Meyers.
Vielleicht ist auch Ishai einer der Glücklichen. Der 17-Jährige strahlt übers ganze Gesicht. Erleichtert ist er, aber Angst vor dem Test? Weit gefehlt. Ishai hat eine Vision, und die erzählt der junge Mann, als habe er sie auswendig gelernt. »Ich wurde in Israel geboren und bin seit meinem fünften Lebensjahr sehr oft umgezogen. Es war wegen meiner israelischen Herkunft nicht immer leicht, mich an den vielen Orten, an denen ich gelebt habe, anzupassen.« Ishai und seine Eltern zog es von Israel nach Neuseeland, von dort nach Großbritannien. Im vergangenen Jahr aber, hatte er die Idee, wieder nach Israel zurückzukehren, um dort die Schule zu beenden und danach zur Armee zu gehen.
»Ich möchte gern zur israelischen Luftwaffe«, sagt Ishai, der von seiner Mutter Miriam nach Berlin begleitet wird. Stolz, aber schüchtern steht sie neben ihrem Sohn. In der Hand die geöffnete Tasche, aus der sie einen Stapel Papiere zieht. Zeitungsartikel, Briefe und eine ganz besondere Karte. Sie ist blütenweiß, geschützt durch eine Klarsichtfolie. »Da ist er«, sagt sie zurückhaltend, »mein Sohn«. Und streicht über das Foto. Ishai war in einer Eliteakademie in Neuseeland. Die Karte zeigt ihn in Akademieuniform. Miriam könnte nicht stolzer sein. »Wir haben alles getan, um Ishais Traum zu verwirklichen«, sagt sie. Von Neuseeland nach Manchester – Mutterliebe kennt keine Grenzen.
RoadTrip Auch Shimon ist mit seinem Vater nach Berlin gekommen. »Es ist das erste Mal, dass wir ganz alleine unterwegs sind«, erzählt Ever. »Ich lerne meinen Sohn von einer ganz anderen Seite kennen.« Ever ist in Tripolis geboren und lebt heute mit seiner Familie in Rom. Leicht wird es nicht sein, Shimon gehen zu lassen, sagt er, aber: »Shimon muss die Welt sehen. Er soll seinen Horizont erweitern, soll Englisch lernen.« In Rom leben zwar fast drei Millionen Menschen, aber die jüdische Community sei doch schon eher überschaubar, beschreibt Ever. »In Israel sind Juden aus der ganzen Welt«, und Shimon solle dieses Leben kennenlernen. Der 16-Jährige ist ziemlich gelassen. »Ich bin doch nicht hergekommen, um mir Berlin anzusehen. Ich wollte meinen Test bestehen.«
Von Nervosität auch bei ihm keine Spur. Die Sätze, die er sagt, sind knapp, die Antworten cool. »Während der Prüfung haben wir halt gesessen und unser Ding gemacht.« Er weiß, was er will. »Ich hoffe, dass ich zukünftig in Israel leben kann. Eine Freundin finden, heiraten. So halt.« Mittlerweile hat sich auch Reut wieder erholt. Ihr Vater umarmt sie. Alles, was jetzt noch kommt, kann nur noch ein Kinderspiel sein. Immerhin ist Reut gut angezogen, findet sie. »Und meine Haare sind heute unter Kontrolle.« Das sei, versichert die Manchesterin, ein Zeichen, dass vieles gut werden könne.
In der übernächsten Woche weiß sie mehr, denn dann könnten die ersten Ergebnisse schon feststehen.