Das Telefon klingelt. Wolfgang Nossen nimmt den Hörer ab. »Niemand will etwas bemerkt haben.« Eine DenkNadel mitten im Stadtgebiet, in der Bahnhofstraße, ist beschmiert worden. Die meterhohe Metallskulptur markiert ein Haus, in dem noch vor 80 Jahren ein jüdischer Arzt lebte. Wolfgang Nossen ärgert sich, wird seinerseits aktiv und alarmiert die Behörden. Es ist keine Seltenheit, immer wieder werden jüdische Orte beschädigt oder geschändet. »Auch wenn es derzeit etwas ruhiger ist«, sagt der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde. Am 9. Februar feierte er seinen 80. Geburtstag.
Erinnerungen Das kleine Büro im Gemeindezentrum am Juri-Gagarin-Ring ist voller Bücher, Dokumente und Erinnerungen. Der dunkle Schreibtisch kann die vielen Schriftstücke kaum fassen, der Bücherschrank auch nicht. Israelische Andenken markieren das Arbeitsleben von Wolfgang Nossen. Knapp 850 Mitglieder zählt seine Gemeinde. »Mitglieder«, betont er, dazu kommen noch viel mehr Menschen. Von 1.500 bis 2.000 jüdischen Zuwanderern in Thüringen geht er aus.
In seinem Sekretariat wird Russisch und Deutsch gesprochen. Das Telefon klingelt fast ununterbrochen. Nossen kennt die Erwartungen der Zuwanderer und die Realität in der neuen Heimat. »Gerade hat man uns mitgeteilt, dass die Stadt die Miete für unser Kulturzentrum nicht mehr zahlen kann.« Er runzelt die Stirn, nimmt einen Schluck Kaffee und schüttelt den Kopf. Es sei schade, dass manchmal jüdische historische Bauwerke mehr Aufmerksamkeit genießen als die Menschen, die heute hier leben.
Wenn er auf sein Leben blickt, so ist dies eine lange Geschichte, die am 9. Februar 1931 in Breslau beginnt. »Die schwierigsten Jahre war die Nazizeit«, erinnert er sich und erzählt vom Leben im Ghetto, seiner Mutter, den vier Geschwistern und dem inhaftierten Vater im KZ Buchenwald. Schon früh musste der junge Wolfgang erwachsen werden, kannte Razzien, Schläge, die brennende Synagoge in Breslau, die Verstecke der Familie. »Wir haben uns früher ›im Dritten Reich‹ immer mit dem Gruß verabschiedet: Bleib übrig!« sagt er und lacht. »Je näher es dem Ende des Krieges zuging, desto dramatischer wurde es: Erwischen sie dich doch noch oder nicht?« Eine Odyssee liegt 1945 hinter ihm: Mehrfache Flucht, monatelanges Überleben in leer stehenden Kellern, Bombenangriffe, die Suche nach Lebensmitteln.
Zeitzeuge Von Schülern werde er heute oft gefragt, ob er auch Angehörige verloren hat und gelitten habe? Der Gesichtsausdruck wird sehr finster. »Meine Familie war riesig. Mein Großvater – das waren 13 Geschwister – später kamen mehr als 100 Familienmitglieder zusammen. Da hat keiner überlebt. Alle sind vernichtet worden und von den meisten wissen wir nicht einmal wo.« Drei Geschwister seines Vaters haben sich retten können. »Sie sind ausgewandert«, erzählt er.
»Ein Bruder ist direkt von Buchenwald nach Schanghai geflohen. Seine Frau ist 1943 in Auschwitz umgekommen, mit dem Sohn.« Es sind Antworten, die keine Nachfragen zulassen, die selbst nach den vielen Jahren traurig machen und ratlos. »Die anderen Geschwister sind ermordet worden, ich sage nicht ›gestorben‹, ich sage ›umgebracht worden‹. Und von den Großeltern wissen wir, dass sie durch die lettische SS erschossen worden sind in Riga.«
1945 kam Wolfgang Nossen für drei Jahre nach Erfurt. Damals hat er seine heutige Frau kennengelernt, die er erst Jahrzehnte später wiedersehen und heiraten konnte. Auch das war ein Abenteuer mit verlorenen Briefen und zwei wartenden Menschen, die einander begegnen wollten, aber nicht durften. Heute begleitet ihn seine Frau durch den Alltag, hält ihm den Rücken frei und unterstützt ihn. Dreimal pro Woche muss ihr Mann in ein Dialysezentrum. Das schränkt ein. Die Zeit fehlt dem agilen, immer beschäftigten und engagierten Menschen.
Kritiker Wolfgang Nossen gehört zu den Unbequemen der Stadt. Immer wieder äußert er sich klar zur Politik, kritisiert, wenn ihm das leichtfertige Abwarten und Nichtstun gegen Rechtsextremismus zu viel wird. In mehreren Fördervereinen ist er aktiv und rüttelt wach, wo politische Kommunikation oftmals fehlt. Seine Stimme ist eine wichtige im Land, auch wenn er sich jetzt langsam zurückziehen wird aus dem aktiven Alltag. Reisen und vor allem bei Kräften bleiben, das wünscht er sich.
Nach Israel zieht es ihn noch einmal. Dort leben seine Schwester und sein Sohn mit ihren Familien. Es ist ein Land, das er einst mit aufbauen wollte. Dafür zog er dort in den Krieg, opferte einen Teil seiner Gesundheit. »Das Israel von heute ist nicht das, von dem wir damals träumten«, sagt er. Und heute? Heute macht er sich Sorgen mit Blick auf den Nachbar Ägypten.
Er blickt auf nun fast 80 bewegte Jahre zurück. »Meine Mutter wurde fast 91 Jahre. Vielleicht habe ich ihre Gene«, sagt er und lacht wieder. Sie gehört zweifelsohne zu den Personen, die ihn besonders geprägt haben. Und beeindruckt? »Beeindruckt hat mich, dass Amerika heute einen schwarzen Präsidenten hat. Das hätte ich nicht für möglich gehalten.«