Eine gewisse Zeitenwende sei angebrochen im Jugendreferat der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), findet nicht nur Laura Cazes (27). »Inzwischen kann man nicht mehr sagen, welcher junge Mensch aus einem osteuropäischen Haushalt kommt und welcher nicht. Unser Auftrag, die russischen Zuwanderer aus den 90er-Jahren zu integrieren, ist abgeschlossen.« Die Namen der zweiten Generation jüdischer Zuwanderer sind größtenteils deutsch, die Sprache akzentfrei. »Deshalb muss die ZWST ihre Aufträge in der Jugendarbeit in den kommenden Jahren neu abstecken«, sagt Cazes.
Sie entwickelte auf Initiative des Jugendreferenten Nachumi Rosenblat das Konzept eines nun erstmals durchgeführten »Manhigut Future Forums«. Das ist ein bewusst gewählter, dreifacher Sprachmix aus dem hebräischen Wort für »Leitungspersönlichkeit«, dem englischen Wort für »Zukunft« und dem aus dem Lateinischen entnommenen Begriff Forum.
Teilnehmer 21 junge Menschen im Alter zwischen 18 und 26 Jahren aus ganz Deutschland kamen zum Forum in die Abgeschiedenheit des Max-Willner-Heims in Bad Sobernheim. Sie alle sind mit dem Haus gut vertraut, da die ZWST dort einen Großteil der Jugendaktivitäten durchführt. Und sie sind alle in ihren jüdischen Gemeinden, auch an ihren Universitäten oder politischen Jugendorganisationen aktive Macher, Schaffer und Vordenker. Alle haben ihre Ansichten, die sie leidenschaftlich begründen und verteidigen, allerdings ohne jene Verkrustung, die erwachsenen Gehirnen oft anhaftet.
ZWST-Mitarbeiterin Laura Cazes war jedenfalls froh, so viele motivierte wie kompetente künftige Leitungspersönlichkeiten drei Tage lang an einem Ort versammeln zu können. Fast alle waren auch einmal Chanichim.
Das Konzept besteht aus vier Säulen: Welches Selbstverständnis haben junge Menschen, die im Sinne der ZWST arbeiten, im Hinblick auf Geschichte, Gegenwart, Werte, Ziele, Themen und Visionen? Dann der Austausch und die Vernetzung mit ehemaligen Madrichim und Akteuren jüdischer Jugendarbeit weltweit. Drittes Anliegen in Bad Sobernheim war die Professionalisierung der Jugendarbeit: Gibt es neue Methoden, Quellen, Ressourcen, die bislang unentdeckt waren und die die Kreativität anregen? Welche Aktivitäten haben sich als besonders gut erwiesen?
Zukunftswerkstatt Im Idealfall sollte der Austausch zu einer Zukunftswerkstatt führen, die der ZWST-Jugendarbeit neue Strukturen, neue Ziele und durchaus auch eine frische Identität verleihen können. Nachumi Rosenblatt sprach mit Teilnehmern über seine Zukunftsversionen. Religionslehrer Benny Pollak und die Jugendreferentin der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden, Susanne Benizri, diskutierten während der drei Tage über die Rolle des Judentums in der Jugendarbeit.
Vielleicht kam dem einen oder anderen Teilnehmer die schier hundertfache Ideensammlung zu abstrakt vor, zu wenig greifbar. Aber das war durchaus so gewollt. Laura Cazes unterstützte die Teilnehmer nach Kräften, leitete – wo nötig – ganz ohne jemanden in ein Meinungskorsett zu zwingen. »Ergebnisoffen« würde die große Politik dazu wohl sagen. »Ich hab euch gesagt: ›Allways think big‹«, motiviert Cazes, die hauptamtliche Koordinatorin des Deutsch-israelischen Freiwilligendienstes der ZWST ist.
Unter den Teilnehmern war auch Noa Kosmann, 18 Jahre alt, sie wohnt in Köln, wo sie anderthalb Jahre lang im Jugendzentrum half und seit 2016 auch Betreuerin bei Machanot ist. »Die ZWST schätzt unsere Arbeit und will eine Stärkung der Jugendarbeit. Gerade Laura steckt sehr viel Herzblut hinein«, erzählt sie. Dass im Ergebnis nun viele abstrakte Begriffe im Raum stehen, sieht Noa Kosmann nicht tragisch, denn: »Hinter sehr vielen Begriffen stecken schon konkrete Ideen und Projekte«.
Partizipation Auch der 20-jährige Vorsitzende des Verbandes Jüdischer Studierender Nord (VJSNord), Lionel Reich, nahm am Forum teil. Er begleitet seit vielen Jahren Seminare und Machanot und kennt Theorie wie Praxis. »Der Bedarf für das Manhigut Future Forum war schon länger da. Der Wille zur Partizipation war immer deutlich zu spüren.« Er habe auch festgestellt, dass die verschiedenen Typen im Forum sehr unterschiedliche Konzepte und Ideen in die Waagschale warfen. Am meisten Respekt zollte er jedoch Laura Cazes, die »uns viel Vertrauen entgegenbringt und uns sehr viel Handlungsspielraum lässt«. Das Herzensanliegen von Lionel Reich ist es, deutsch-jüdisches Bewusstsein und Identität zu stärken.
Mehrere konkrete Ideen konnten überdies am Abschlusstag festgehalten werden: die Eltern der Jugendlichen, die an ZWST-Veranstaltungen teilnehmen, stärker einbeziehen. Eine (telefonische) Beratung für Kinder schaffen, die in größeren seelischen Problemen stecken. Das Engagement eines Rabbiners – oder wenigstens eines künftigen Rabbinatsstudenten – für größere Machanot.
Religiosität Bei der Religiosität schieden sich die Geister der Diskutanten: Dem einen gibt es zu wenig, dem anderen zu viel davon. Ziemliche Einigkeit herrschte indes beim Willen, dass Deutschsein und Judesein kein Widerspruch, sondern im Gegenteil eine Selbstverständlichkeit sein müssten. Auch diskutierten die 18- bis 26-Jährigen leidenschaftlich über die Frage, mit wie viel Radikalität man Ziele verfolgen könne. »Wir wollen ja alle das Gleiche, nur die Wege sind unterschiedlich«, brachte es ein Teilnehmer auf den Punkt. Wie bekommt man künftig die richtige Machanot-Mischung zwischen Tiefgang und Inhalt auf der einen, Spaß und Zerstreuung auf der anderen Seite hin?
Außerordentlich ernsthaft und konzentriert sprachen die Teilnehmer miteinander – eben wie künftige Leiter und Leiterinnen. Und zwischendurch war sogar Zeit für manch humorvolle Anmerkung, als die entsprechende Diskussion aus der Jüdischen Allgemeinen zitiert wurde: »Ist es sinnvoll, Kindern und Jugendlichen das Handy abzunehmen, wenn sie auf ZWST-Machane sind?«
Tipps Laura Cazes wusste den Forumsteilnehmern aber auch praktische Tipps mit auf den Weg zu geben, so etwa bei der Schlussrunde: »Schätzt eure Ressourcen realistisch ein, vor allem die zeitlichen!«
Dann durften alle Teilnehmer ein Schlusswort sprechen. »Ich bin hochmotiviert. Das hier könnte etwas lang Anhaltendes, etwas Großes werden.« »Der Zusammenhalt ist das Entscheidende. Es kann nur in der Gruppe gelingen.« Ein anderer Schlusssatz lautete: »Ich bin neugierig, wie man das alles umsetzen kann.« Die Forumsleiterin lobte ihre Schützlinge ausdrücklich, und meinte: »Ich habe den Arbeitsauftrag an mich gehört, auch wenn ich nicht alleine entscheiden kann, was wir alles umsetzen können.«