So richtig nervös ist Chiara Hubermann eigentlich noch nicht. Zumindest, solange sie nicht an den bevorstehenden Schabbat denkt. Abends wird sie mit ihrer Familie zur Synagoge in der Berliner Pestalozzistraße gehen. Nichts Ungewöhnliches. Etwa 200 Menschen werden da sein, schätzt die Zwölfjährige. Auch das ist in dem Gotteshaus, das in diesem Jahr sein 100-jähriges Bestehen feiert, durchaus üblich.
Doch manchmal, wenn sich Chiara diesen Tag ausmalt und darüber nachdenkt, wie 200 Augenpaare nicht wie gewöhnlich allein auf den Kantor und den Rabbiner, sondern auf sie gerichtet sein werden, bekommt sie so etwas wie ein leichtes Lampenfieber. »Ich werde direkt neben dem Rabbiner sitzen«, sagt sie mit einer Mischung aus Stolz und Unsicherheit. Dabei wird das Sitzen noch die kleinste Herausforderung sein.
»Ich habe leider eine ziemlich lange Haftara erwischt«, sagt Chiara. Die Lesung aus den Prophetenbüchern ist eine Aufgabe. Zuvor wird sie die Kerzen anzünden, und noch zwei Brachot sprechen. Der Kantor der Gemeinde wird ihr zur Seite stehen. »Die Übersetzung wird, glaube ich, das Schwierigste«, sagt Chiara. Eine Rede sowie eine Interpretation des Tora-Wochenabschnitts bilden den Abschluss, ehe der Rabbiner den Segen erteilt. Verwandte aus Deutschland, den USA und Israel werden dabei sein, wenn aus Chiara Hubermann eine Batmizwa wird – eine Tochter der Pflicht.
Erwachsensein Seit 99 Jahren gibt es das weibliche Pendant zur Barmizwa. »Das Interessante ist, dass sie nicht aus dem Reformjudentum stammt«, sagt Tom Kucera, Rabbiner der liberalen jüdischen Gemeinde in München. Tatsächlich ist es dem Begründer des jüdischen Rekonstruktionismus, Mordecai Kaplan, zu verdanken, dass dieser mittlerweile zur Tradition gewordene Brauch eingeführt wurde. Die Bedeutung ist nach fast 100 Jahren jüdischer Geschichte unverändert geblieben. Chiara weiß das: »Wenn ich die Batmizwa hinter mir habe, gelte ich als Erwachsene. Das bedeutet, dass ich auch Pflichten übernehme, die ich einhalten muss.«
Die Aufgaben, die Chiara während der Batmizwa-Feier in der Synagoge übernimmt, zeigen, dass sie einer liberalen Gemeinde angehört. Der Umfang der Feierlichkeiten ist von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich geregelt, je nachdem, ob sie eher dem liberalen oder dem orthodoxen Flügel des Judentums zuzuordnen ist.
Traditionen »Die Zeit der Batmizwa ist ein ganz wichtiger Abschnitt für Mädchen«, sagt Avichai Apel, Rabbiner in Dortmund und Vorstandsmitglied der orthodoxen Rabbinerkonferenz. »Es gibt unterschiedliche Wege, das zu feiern.« Traditionell gesehen, bleibt das öffentliche Lesen der Tora den Männern vorbehalten. Dennoch ist es mittlerweile üblich, den Ritus in der Synagoge zu begehen. »Außer vielleicht in einigen ultraorthodoxen Ecken«, meint Apel.
Zu den Pflichten bei einer orthodoxen Batmizwa zählt das Entzünden der Kerzen. »Die wichtigste Pflicht der Frauen in der Synagoge«, sagt Apel. Danach kann das Mädchen eine Rede halten, wird eventuell auch hier das Schma Israel aufsagen. »Die wichtigste Mizwa jedoch ist die Hilfe für den Nächsten«, betont Apel. Deshalb sind die Mädchen angehalten, sich zu überlegen, ob sie sich nicht für gemeinnützige Zwecke engagieren oder spenden wollen.
Soziales Engagement Auch in vielen liberalen Gemeinden werden die Mädchen dazu angehalten, sich für soziale Belange und Projekte einzusetzen. »Wichtig ist, dass sich darin der Wille des Kindes ausdrückt«, sagt der Rabbiner Kucera, »dass es selbst entscheidet, was es tun kann.« Ein Motto, das in seiner Gemeinde über der gesamten Vorbereitungszeit bis zu Batmizwa steht.
Nicht zuletzt deshalb wird darauf Wert gelegt, dass die Mädchen nicht nur die Tora lesen, sondern auch den Schacharit. »Man muss die Elemente erkennen können«, betont Kucera. Schließlich soll das Mädchen selbst erklären können, was es bedeutet, eine Batmizwa zu sein. »Es muss selbst entscheiden können, welche Mizwot ihr die wichtigsten sind«, so Kucera.
Gleiche pflichten Auf beiden Seiten, der liberalen wie der orthodoxen, wird in dieser Frage gerne Einigkeit beschworen. »Wir befinden uns nicht im Wettbewerb mit der Orthodoxie«, betont Kucera. »Für Jungen und Mädchen gilt dieselbe Pflicht, sich an die Gebote zu halten«, betont auch Rabbiner Apel. »Wir freuen uns über jeden Jungen und jede Frau, die diese Pflicht annimmt.«
Ein halbes Jahr hat sich Chiara auf ihre Batmizwa vorbereitet – die Hälfte der sonst üblichen Zeit. Da ihre Familie erst vor einigen Jahren aus Israel nach Deutschland zurückgekehrt ist, spricht sie bereits Hebräisch. »Gerade beim Lernen der Sprache ist es wichtig, dass die Eltern hinter den Kindern stehen und sie motivieren«, sagt Kucera. Auch müsse man insbesondere zugewanderten Eltern oft erst erklären, was Bar- und Batmizwa bedeuteten.
Chiara braucht das niemand mehr zu erklären. Die Ehrung der Feiertage, die Achtung der Gebote, der wöchentliche Besuch in der Synagoge, sie kennt die Pflichten. Und wie jede Batmizwa hofft sie, ihnen gerecht werden zu können. »Denn die Übernahme dieser Pflichten«, sagt sie, »heißt auch, dass man von den anderen höher eingestuft wird.« Für eine Zwölfjährige klingt das erstaunlich erwachsen.