Vortrag

»A Historiker un a Kemfer«

Für den Geschichtsprofessor Michael Brenner ist die Pflege der jiddischen Sprache ein wichtiger Bestandteil jüdischer Kultur. Nach Tamar Lewinsky aus der Schweiz hat er derzeit Evita Wiecki aus Polen als fachkundige Lektorin des Jiddischen in seinem Team. Das Experiment, ein wissenschaftliches Referat 2010 in Jiddisch vortragen zu lassen, war so erfolgreich, dass es nun jedes Jahr im Mai – mit Unterstützung des Freundeskreises des Lehrstuhls – einen »Scholem Alejchem Vortrag« gibt, benannt nach dem wohl bekanntesten jiddischsprachigen Schriftsteller.

Als Kooperationspartner war schnell das Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde gewonnen, gibt es doch in München vergleichsweise viele Gemeindemitglieder, die mit »mameloschn« groß wurden. So auch Leo Milchiker, der die Einladung des Historikers Samuel Kassow tatkräftig unterstützte. Kassow, Jahrgang 1946, verbrachte seine frühe Kindheit als DP-Kind in Wasseralfingen bei Aalen. Wenn er mit deutschen Kindern spielte, fiel ihm ihr »modnes« (seltsames) Jiddisch auf. »Shmuel Kassow iz a groyser historiker, a meyvn (Experte) af der teme fun Varshever geto«, wie Wiecki einführend erläuterte, »zayn mameloshn iz beemes (tatsächlich) di shprakh fun zayn mame fun a kleyn vaysrusish shtetl.«

Würdigung 2010 war Kassows international viel beachtete Studie Who will write our history? Emanuel Ringelblum, the Warsaw Ghetto and the Oyneg Shabes Archive unter dem Titel Ringelblums Vermächtnis im Rowohlt Verlag erschienen. Sein Vortrag über »A Historiker un a Kemfer: Emanuel Ringelblum in Varshaver Geto« war eine besonders gelungene Würdigung für Ringelblum, der als Anhänger der linken Poale Zion und »Borochovist« (Anhänger von Ber Borochov) zionistisches, politisches Engagement und jiddische Kultur als natürliche Verbündete ansah. Er war »a Kemfer gegen die Assimilatje« und überzeugter Jiddischist, denn wer die jüdischen Massen liebe, müsse auch die jiddische Sprache lieben.

Kassow verwies in schönstem litwischem Jiddisch auf gerettete, weil vielerlei vergrabene »Zeugnisse geformt durch Blut und Schmerz«, aus Auschwitz, Lodz, Bialystok, Vilnius und Warschau. Bei ihm heißt das: »A Genisa gefilt mit Blut und Peyn«.

Emanuel Ringelblum (1900–1944) bemühte sich darum, »dass Juden nicht als passive Opfer betrachtet wurden, sondern als Teil eines aktiven kreativen Volkes«. Er glaubte an »Allejnhilf« – Selbsthilfe. Die Ausweisung von 17.000 Juden aus Deutschland nach Polen im Oktober 1938 war ein Wendepunkt in seinem Leben gewesen. Er trieb Küchen auf und sorgte für juristische Hilfe, war offensichtlich ein Organisationstalent. 1939 war er beim zionistischen Weltkongress in Genf – also in Sicherheit – gewesen. Doch er kehrte zu Frau Yehudis und Sohn Uri zurück. Zwei Wochen später überfielen deutsche Truppen Polen.

Veränderungen Ab Spätherbst 1940 bekam Ringelblums Historiografie eine besondere Zielrichtung. In seinem Tagebuch nannte er »die Zeit vor dem Ghetto eine echte Idylle. Jeder Monat brachte tiefe Umbrüche, die das jüdische Leben grundlegend änderten. Deswegen war es wichtig, jedes Geschehnis im jüdischen Leben sofort zu fangen.«

Sein aus 60 Mitarbeitern bestehendes Team nannte sich »Oyneg Shabes« (Schabbat-Vergnügen), weil man jeden Samstag zusammenkam. Nur drei von ihnen überlebten, nur einer wusste, wo die Sammlung von Tagebüchern, Theaterplakaten, Straßenbahnfahrkarten, Speisekarten, amtlichen Ankündigungen und Fotos – Quellen für eine Sozialgeschichte der polnischen Juden im Ghetto – vergraben waren. Nur ein Teil – 25.000 Dokumente – konnte 1946 geborgen werden. Ringelblum gelang es mehrfach, Belege der organisierten Judenvernichtung nach London zu schmuggeln. Eine Zeit lang glaubte er sogar, dass das deutsche Volk – vor allem die Sozialdemokraten und Kommunisten darunter – Hitler Einhalt gebieten werde.

Noch in seinem letzten Versteck in einem Bunker auf der »arischen« Seite, im Süden Warschaus, schrieb er über die jüdisch-polnischen Beziehungen während des Krieges, laut Kassow »a Maysterwerk«. Anfang März 1944 wurde Ringelblum »gemassert«, verraten, und mit seiner Familie in das berüchtigte Pawiak-Gefängnis verschleppt.

Kino

Unerträgliche Wahrheiten

Das Dokudrama »Die Ermittlung« über den ersten Auschwitz-Prozess wurde bei den Jüdischen Filmtagen gezeigt

von Nora Niemann  05.02.2025

Interview

»Wo immer wir gebraucht werden – wir sind da«

Rabbiner David Geballe über Seelsorge in der Bundeswehr und die Vermittlung von Wissen

von Helmut Kuhn  04.02.2025

Porträt der Woche

Frau der ersten Stunde

Avital Toren wurde vor 30 Jahren gebeten, die Gemeinde in Heilbronn aufzubauen

von Gerhard Haase-Hindenberg  02.02.2025

Hamburg

»Wir sind dran!«

Von Klimawandel bis jüdische Identität: Der Jugendkongress 2025 verspricht vier intensive Tage

von Florentine Lippmann  02.02.2025

Leer (Ostfriesland)

Schoa-Überlebender Weinberg will mit Steinmeier sprechen

Nach seiner Ankündigung, das Bundesverdienstkreuz abzugeben, hat der fast 100-jährige Zeitzeuge ein Gesprächsangebot des Bundespräsidenten angenommen

 31.01.2025

Berlin

Jüdische Stimmen zur Asyl-Abstimmung: Ein Überblick

Wie blicken Juden auf den Vorwurf, die CDU reiße die Brandmauer zur AfD ein? Wir haben uns umgehört

von Imanuel Marcus  30.01.2025

Bildung

Das beste Umfeld

Zwar beginnt das neue Schuljahr erst nach dem Sommer, doch schon jetzt fragen sich Eltern: Welche Schule ist die richtige? Gespräche mit Schulleitern über Wartelisten, Sprachniveau und Traditionen

von Christine Schmitt  30.01.2025

München

Fit fürs Finale

Beim Vorentscheid zum »Chidon Hatanach« in Jerusalem wurde wieder jede Menge religiöses Wissen abgefragt

von Luis Gruhler  30.01.2025

Rostock

Den Vorhang auf

Seit vielen Jahren gibt es in der Jüdischen Gemeinde eine Theatergruppe. Ein Besuch bei den Proben für »Kalif Storch« im Kulturhistorischen Museum

von Katrin Richter  29.01.2025