Nadja Vergne ringt um Worte: »Je suis ému … Wie sagt man auf Deutsch?« Aber sie muss es gar nicht sagen, man merkt es auch so. Die zierliche Französin ist tief bewegt, dass sie nun endlich ihr Erbe in den Händen halten kann: das Archiv Mittelmann.
Knapp 2000 Glasplatten mit Fotonegativen aus dem Fotoatelier ihres Großvaters, Abram Mittelmann, verpackt in acht unscheinbare gelbe Pappkartons. Überhaupt ist die Erleichterung darüber, dass das empfindliche Archiv nun hier beim Verein Archiv Bürgerbewegung in Leipzig lagert, bei allen Beteiligten zu spüren. Denn es sah lange Zeit nicht danach aus, als würde die Geschichte ein gutes Ende nehmen.
Atelier Begonnen hat die Geschichte Anfang des vergangenen Jahrhunderts, als Abram Mittelmann sein Fotoatelier im Zentrum Leipzigs eröffnete. Rund 30 Jahre lang, bis zu seiner Flucht vor den Nazis im Jahr 1938, fertigten er und auch sein Sohn hier vor allem Porträt-Aufnahmen an: Mitglieder der jüdischen Gemeinde genauso wie nichtjüdische Leipzigerinnen und Leipziger.
Bei seiner Flucht im Jahr 1938 ließ Mittelmann die Glasnegative auf dem Dachboden des Hauses am Leipziger Petersteinweg zurück, in dem das Atelier war. Ihm gelang die Flucht nach Belgien, wo er 1942 von den Nazis ermordet wurde. Seine Fotos aber überdauerten den Krieg und die kommenden Jahrzehnte auf dem Dachboden, bis sie im Jahr 1987 die Leipziger Fotografin Gudrun Vogel dort fand und an sich nahm.
Auch Historiker in der DDR hatten die Bedeutung der Sammlung erkannt.
Ein Jahr später stellte Vogel einige der Fundstücke für eine Ausstellung mit dem Titel »Juden in Leipzig« zur Verfügung, die von der Leipziger Universität organisiert wurde, auch im Katalog wurden einige Bilder abgedruckt. Mit dieser Ausstellung begannen auch die Konflikte um die Sammlung.
»Die Sammlung ist vielleicht das bedeutendste Bilddokument zur jüdischen Leipziger Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts«, sagt der heutige Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums in Leipzig, Anselm Hartinger. »Es ist ein Querschnitt durch die Leipziger Gesellschaft und zugleich ein einzigartiger Einblick in die jüdischen Gemeinde- und Familienbeziehungen.«
Familienfotos Auch Historiker in der DDR hatten die Bedeutung der Sammlung erkannt, doch Gudrun Vogel weigerte sich, die Sammlung an DDR-Behörden zu übergeben – und kurz danach war die DDR Geschichte. Rund zehn Jahre später besuchte Nadja Vergne gemeinsam mit ihrer Mutter, die mit Abram Mittelmanns Sohn Siegfried verheiratet war, das erste Mal Leipzig.
In einem der 1988 gedruckten Ausstellungskataloge entdeckte sie alte Familienfotos: Onkel, Tanten und ihren eigenen Vater als Kind. Denn was für Historiker einfach eine wichtige Quelle ist, sind für Nadja Vergne – zumindest zum Teil – Familienfotos. Das gilt wohl auch für andere jüdische Familien, deren Vorfahren Anfang des Jahrhunderts in Leipzig lebten.
Doch Gudrun Vogel, die sich inzwischen von dem befreundeten Kulturhistoriker Wieland Zumpe beraten lässt, will auch Vergne und ihrer Mutter die Sammlung nicht übergeben. Nur ein paar Abzüge von Familienmitgliedern und eine CD mit Scans händigt sie aus. Vogels Argument: Sie habe andere Nachkommen von Abram Mittelmann, die Töchter seines ältesten Sohnes Leon, kontaktiert, und diese hätten ihr die Erlaubnis erteilt, weiterhin mit dem Archiv zu arbeiten. Beweise dafür gibt es aber nicht, ein Kontakt zu diesen Cousinen konnte nicht hergestellt werden.
vermittlung Seit Ende der 90er-Jahre versuchten verschiedene Leipziger Institutionen immer wieder vergeblich, auf Gudrun Vogel und Wieland Zumpe einzuwirken, das Archiv Mittelmann zugänglich zu machen. Ein geplantes Projekt mit dem Stadtgeschichtlichen Museum scheiterte in letzter Minute. Auch die jüdische Gemeinde versucht immer wieder zu vermitteln.
Deren Vorsitzender Küf Kaufmann erinnert sich an Gespräche mit Wieland Zumpe: »Ich habe damals einen guten Eindruck bekommen. Vor mir saß ein Retter des Archivs, ein Mensch, der die Bedeutung des Archivs für die Leipziger Geschichte versteht. Aber mit der Zeit kamen Zweifel auf: Ich war nicht sicher, dass die beiden bereit sind, sich von diesem Schatz zu trennen.«
Warum die beiden sich so schwertaten, das Archiv loszulassen, ist nicht ganz klar. Gudrun Vogel möchte sich dazu nicht zitieren lassen, aber in einem Telefongespräch wird deutlich, dass sie sich als Treuhänderin des Archivs sieht, die versuchte, illegitime Ansprüche auf das Archiv abzuwehren – und sich dabei irgendwann verrannt hat. Ähnliches gilt für Wieland Zumpe, der ausführliche Mails zu dem Thema verschickt.
misstrauen Beide hegen ein tief sitzendes Misstrauen gegen jedwede staatliche Institution, was wohl von DDR-Erfahrungen herrührt. Und sie sind maßlos enttäuscht, dass ihre Rettung des Archivs und die Arbeit, die sie in seinen Erhalt und seine Erschließung – Wieland Zumpe hat in Eigenregie einen Teil der Porträts gescannt und katalogisiert – gesteckt haben, so wenig gewürdigt werden.
Am Ende gelingt dem Archiv Bürgerbewegung der Durchbruch.
Dieses Misstrauen gegen staatliche Stellen zeigt sich auch daran, dass die beiden zwischenzeitlich vorschlagen, das ganze Archiv nach Yad Vashem zu übertragen – was daran scheitert, dass die Gedenkstätte die Bilder nicht ohne Einverständnis der Erbin übernehmen will.
Am Ende ist es ein zivilgesellschaftlicher Verein, dem der Durchbruch in dieser verfahrenen Situation gelingt: Das Archiv Bürgerbewegung, das sich um die Dokumentation der DDR-Opposition kümmert – und in Leipzig auch das Stolperstein-Projekt betreut. Gleichzeitig wurde der Druck der Öffentlichkeit immer größer, als die lokale Presse über Nadja Vergnes Kampf um den Nachlass ihrer Familie berichtete. »Wir als Verein gehören de facto nicht zur Stadt«, sagt Achim Beier vom Archiv Bürgerbewegung, »und da hat man das Archiv lieber an uns übergeben, damit man es nicht der Stadt übergeben muss.«
großzügigkeit Jetzt, da der Streit endlich beigelegt ist, plädiert Küf Kaufmann für Großzügigkeit: »Obwohl dieser Kampf ziemlich bitter war, müssen wir auch lobende Worte finden für die, die diese Kisten gefunden und bewahrt haben, für Frau Vogel und Herrn Zumpe.«
Nun soll ein runder Tisch transparent entscheiden, was mit dem Fotoarchiv geschehen und wie es der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll. Ideen gibt es viele, von Ausstellungen über Forschungsprojekte bis hin zu Büchern. Sicher ist aber: Das letzte Wort dabei hat Mittelmann-Enkelin Nadja Vergne. Die ist derweil einfach nur erleichtert: »Man hat mir meine Familie zurückgegeben.«