Am 1. Oktober geht es in Erfurt feierlich zu: Im Kaisersaal wird das Themenjahr »900 Jahre jüdisches Leben in Thüringen« mit einem Festvortrag von Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, eröffnet.
Er wird über »900 Jahre jüdisches Leben in Thüringen, 1700 Jahre in Deutschland – eine Geschichte mit Brüchen und mit glücklicher Zukunft?« sprechen und fragen: Hat Deutschland aus seiner Geschichte gelernt?
Bildung Das Themenjahr geht auf eine Initiative der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands und des Bistums Erfurt in Zusammenarbeit mit der Jüdischen Landesgemeinde zurück. Während dieses Themenjahres wird es 150 Veranstaltungen geben. Schwerpunkt ist die Bildung. »Wir wollen die Bevölkerung für die jüdische Kultur, die Religion und Geschichte sensibilisieren«, sagt Reinhard Schramm, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde. Das sei gerade in diesen Zeiten dringend nötig.
Es wird einen jüdischen Stadtführer für Kinder geben.
Wichtiger Teil des Themenjahres werden die drei jüdischen Festivals im Freistaat sein. Wie unterschiedlich sie jüdische Kultur ins Publikum bringen, wird – wie schon in den Jahren zuvor – auch während des Themenjahres sichtbar werden. Vertreter des Yiddish Summer Weimar, der Achava-Festspiele und auch der Jüdisch-Israelischen Kulturtage werden während eines Konzerts auf der Bühne die Vielfalt jüdischen Lebens präsentieren.
Tora Zu einem der Höhepunkte des Themenjahres dürfte das Schreiben der neuen Torarolle gehören. Reuven Yaacobov ist der Sofer, der zwar in Berlin arbeitet, aber einmal im Monat nach Thüringen in unterschiedliche Städte kommen wird. In seinem Gepäck hat er seine Feder, besondere Tinte und unbeschriebenes Pergament. Seit Ende vergangenen Jahres schreibt er an den 304.805 Zeichen. Den letzten Buchstaben zelebriert er am 30. September 2021 öffentlich, ehe die Torarolle, die Sefer Tora, durch die Stadt getragen und schließlich feierlich in der Synagoge ihren Platz bekommen wird – ein Ereignis, das für Thüringen in nächster Zeit einmalig bleiben dürfte.
Thüringens Rabbiner Alexander Nachama hat für die Reihe »Tora ist Leben« das Konzept erarbeitet und will daran mitwirken, dass der Themenschwerpunkt Bildung eine besondere Rolle spielen kann. Unter anderem steht er für Gespräche und Diskussionen bereit.
Schon zu Beginn des Themenjahres wird der erste Jüdische Kinderstadtführer gedruckt, an dem Mädchen und Jungen von der ersten bis zur sechsten Klasse mitgearbeitet haben. Idee und Texte stammen unter anderem von der Kinderstadtführerin Franziska Bracharz. Alle 34 Grundschulen der Stadt erhalten einen Klassensatz der Publikation. »Eine Nachahmung für andere Städte Thüringens ist ausdrücklich erwünscht«, betont Projektkoordinatorin Elisabeth Fuckel von der Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung.
Modellprojekte Das zweite Modellprojekt heißt »Jüdisches Leben erfahren«. Jugendliche einer Erfurter Schule haben gemeinsam den Erinnerungsort »Topf & Söhne«, die Gedenkstätte Buchenwald und die Alte Synagoge besucht und zudem jüdisches Leben heute erforscht. »Im Zentrum des Projekts stehen die Sichtweisen der Jugendlichen auf jüdische Themen und die notwendige Recherche, um Wissenslücken zu schließen«, erklärt Fuckel. Das neue Wissen wird derzeit multimedial verarbeitet und demnächst online gestellt. Auch hier ist Nachahmung an anderen Schulen des Landes ausdrücklich erwünscht. Dafür gibt es sogar Gelder von der Staatskanzlei.
In einer Ausstellung werden der Erfurter Hochzeitsring sowie der Hochzeitsring aus Colmar präsentiert.
Thüringen ist heute nicht mehr zu denken ohne die erfolgversprechende jahrelange Forschung und Arbeit, um das mittelalterliche jüdische Ensemble in der Altstadt mit der Alten Synagoge, der Mikwe und auch Profanbauten auf die UNESCO-Welterbeliste zu bringen.
Maria Stürzebecher, die UNESCO-Beauftragte der Stadt, arbeitet seit elf Jahren daran und hat nun den entsprechenden 300 Seiten umfassenden Antrag für die formale Prüfung der Unterlagen im Auftrag des Landes eingereicht. Am 1. Februar kommenden Jahres muss der komplette Antrag bei der Wissenschafts- und Kulturorganisation der Vereinten Nationen abgegeben werden, zu dem dann auch noch 700 Fotos gehören, die die Einmaligkeit des Ensembles belegen sollen.
Ausstellung Ende Oktober 2020 bis Mitte März 2021 wird es in der Alten Synagoge zudem eine Ausstellung über jüdische Hochzeiten im Mittelalter geben. Dafür werden neben dem in Erfurt entdeckten Hochzeitsring, der zu dem Erfurter Schatz gehört, auch der Hochzeitsring aus Colmar, der sich gemeinsam mit den gefundenen Münzen und Schätzen in Paris befindet, ausgestellt. Auch faksimilierte Handschriften aus Europa werden zu sehen sein.
Die Tourismus-Gesellschaft Thüringens hat eine neue Imagebroschüre »Jüdische Kultur und Geschichte in Thüringen« herausgebracht, in der unter anderem auch die wichtigsten Orte, Feste und Veranstaltungen zur jüdischen Kultur vorgestellt werden. Denn nicht nur in Erfurt gibt es zahlreiche Zeugnisse der jüdischen Geschichte.
Die Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek erarbeitet derzeit das multimediale Portal »Menora«. Dieses Portal soll jüdisches Leben vergangener Zeiten und von heute abbilden. Zwei Jahre lang läuft dieses Projekt, das vom Land finanziert wird. Am 2. November wird es eröffnet und soll als digitaler Wissensspeicher auch in der Zukunft fungieren.
Spuren und Aktivitäten jüdischen Lebens sollen sichtbar werden.
Rekonstruktion Projektleiter Andreas Christoph bringt es auf den Punkt: »Wir wollen oftmals verborgene Spuren und Aktivitäten jüdischen Lebens sichtbar machen.« Zu den Höhepunkten von »Menora« gehört die virtuelle Rekonstruktion der Großen Synagoge in Erfurt, die bis Ende nächsten Jahres entstehen wird. Die Synagoge kann dann virtuell besichtigt werden.
Unisono erklären alle Beteiligten am Themenjahr 2020/2021, dass sie keinesfalls ausschließlich über die Schoa reden wollen, auch wenn sie gegenwärtig bleiben müsse. »Dieses Morden dürfen wir natürlich nicht vergessen«, sagt Reinhard Schramm. »Doch wir können nur dann erfolgreich dem neuen alten Antisemitismus entgegentreten, wenn wir etwas für die humanistische Bildung tun.« Thüringen besitzt durchaus Einmaligkeit: In Erfurt entstand die einzige neue Synagoge in der DDR.
Der West-Berliner Kantor Estrongo Nachama war während der DDR-Zeit immer wieder in Erfurt, um Trauerfeierlichkeiten und Feste zu gestalten.
Und auch das gehört zur DDR-Geschichte: Der West-Berliner Kantor Estrongo Nachama war in dieser Zeit immer wieder in Erfurt, um Trauerfeierlichkeiten und Feste zu gestalten. »Sicher hat ihm sein griechischer Pass einiges erleichtert«, sagt sein Enkel Alexander Nachama, der heute Landesrabbiner Thüringens ist.
Für Ministerpräsident Bodo Ramelow ist das Themenjahr die Möglichkeit, den »Blick auf den kulturellen, geistigen und auch ökonomischen Mehrwert« zu richten, der entstehe, »wenn wir unabhängig von Glaube und Herkunft offen und mit gleichen Rechten zusammen leben«.
Programm Das Programmheft für das Themenjahr, das von der Tourismus GmbH herausgegeben wurde und in Zusammenarbeit mit der Thüringer Staatskanzlei und der Jüdischen Landesgemeinde entstand, enthält um die 150 Veranstaltungen – vom Festvortrag über Konzerte, Ausstellungen und Diskussio-nen bis hin zu Kolloquien. Die Verantwortlichen hoffen darauf, dass trotz Corona alle Angebote tatsächlich umgesetzt werden können.
Auf dem Gebiet des Waldklinikums in Eisenberg entsteht derzeit die neueste Synagoge Europas. Nach ihrer Fertigstellung kann dort sogar koscher gekocht werden. Bisher müssen diese Aufgabe Caterer außerhalb Thüringens übernehmen. Auch das ist jüdisches Leben heute in dem kleinen Bundesland.