Halle

9. Oktober, 12.03 Uhr

Will man dieser Tage die Räume der Jüdischen Gemeinde Halle besuchen, braucht man ein wenig Geduld, denn dort gelten seit dem rechtsextremen Terroranschlag auf die Synagoge und einen Imbiss vor knapp fünf Jahren erhöhte Sicherheitsvorkehrungen.

Der Mann, der hinter der Sicherheitsschleuse wartet, wirkt ausgesprochen aufgeräumt. Max Privorozki hat sich inzwischen daran gewöhnt, dass die kleine Gemeinde mit 500 Mitgliedern, der er vorsteht, durch den Anschlag in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt ist – eine Bekanntheit, die die Gemeinde und er selbst nie gesucht haben.

Privorozki zeichnet ein gemischtes Bild der Lage kurz vor dem fünften Jahrestag: »Wenn es um die Gemeindearbeit geht – Feiertage, Ferienlager für Kinder, Seniorenveranstaltungen, Bibliothek, Sozialabteilung, alles, was Religion betrifft –, das alles läuft wie immer, und es gibt keine Einschnitte.« Auch sei das Interesse an der Gemeinde enorm, was einerseits erfreulich sei, aber die kleine Gemeinde fast schon überfordere.

Gleichzeitig sei die Verunsicherung groß, nicht nur, weil sich die rechts­extremistische AfD gerade in Ostdeutschland im Aufwind befindet, sondern auch in Bezug auf den Nahen Osten, die Terrorgefahr und die anti-israelischen Proteste weltweit. »Es gibt Angst«, sagt Privorozki. »Nicht davor, einen Gottesdienst durchzuführen, sondern davor, was morgen passiert, wie die Entwicklungen weitergehen.« So ist bei den Stadtratswahlen in Halle am 9. Juni die AfD mit 21,2 Prozent stärkste Kraft geworden. »Das ist besorgniserregend«, so Privorozki.

Was viele Gemeindemitglieder noch umtreibt, ist der Gedanke an die beiden Todesopfer des Anschlags – auch wenn darüber nicht viel gesprochen wird.

Was viele Gemeindemitglieder noch umtreibt, ist der Gedanke an die beiden Todesopfer des Anschlags – auch wenn darüber nicht viel gesprochen wird. Denn Kevin Schwarze und Jana Lange haben den Hass des Täters und seinen Frust über das Scheitern seines Angriffs auf die Synagoge mit dem Leben bezahlt. »Wäre dieser Anschlag ohne Opfer geblieben, dann könnte ich das inzwischen vielleicht nicht vergessen, aber verarbeiten«, sagt Privorozki. »Doch – und da kann ich nur für mich sprechen – bei mir bleibt dieses Gefühl und wird wohl immer bleiben: Zwei Menschen sind gestorben, und ich lebe.«

Trost findet Privorozki in der großen Anteilnahme, die der Gemeinde durch die hallesche Zivilgesellschaft entgegengebracht wurde: »Wenn 2000 Menschen am Schabbat kommen und eine Kette um die Synagoge bilden – das ist etwas, was für immer in Erinnerung bleibt.« Allerdings, fügt er sofort hinzu, erstrecke sich die Solidarität, die die Juden in Halle erfahren haben, nicht auf den Staat Israel.

»Wir haben verlernt, miteinander zu sprechen«

Diese Bedenken in Bezug auf die Entwicklungen im In- und Ausland teilen nahezu alle Überlebenden des Anschlags, egal ob sie in Halle leben oder anderswo. »Mir macht Sorgen, wie populistisch wir als Gesellschaft geworden sind, wie anfällig für Verkürzungen. Wir haben verlernt, miteinander zu sprechen«, sagt etwa die Berlinerin Anastassia Pletoukhina, die damals als Beterin in der Synagoge in Halle gewesen ist und später Nebenklägerin im Prozess war.

Und ein weiteres Wort taucht im Gespräch mit vielen Überlebenden immer wieder auf: Solidarität. Pletoukhina betont, wie gut ihr der Zusammenhalt zwischen den Überlebenden des Anschlages getan hat, die gerade während des Prozesses gegen den Attentäter sehr füreinander da waren. Das sei auf politischer wie persönlicher Ebene sehr wertvoll gewesen, denn: »Die Einsamkeit bricht dir das Genick.«

Doch es sind nicht nur die Überlebenden von Halle, die sich solidarisieren. Während des Prozesses und im Nachgang haben sich Netzwerke mit weiteren Betroffenen rechter Gewalt gebildet, die bis heute halten. Auch Naomi Henkel-Guembel ist bis heute in diesen Netzwerken aktiv und gestaltet sie mit, um gemeinsam das Erlebte zu verarbeiten: »Wir treffen uns regelmäßig und gehen auch zu den Gedenkveranstaltungen von anderen Initiativen und Angehörigen. Und wir sprechen über gesellschaftliche Aufarbeitung und arbeiten in verschiedenen Formaten zusammen«, sagt die 33-jährige Überlebende des Anschlags, die inzwischen überwiegend in Israel lebt.

Ziel der politischen Arbeit sei es, den Blick zu weiten und die Anschläge nicht als Einzelereignisse, sondern als Teil eines Ganzen zu sehen: »Weil der Fokus damals so stark auf Kassel, Halle und Hanau lag, war es uns wichtig, klarzumachen: Wir reden hier von einer Kontinuität. Man darf den NSU nicht außen vor lassen, man darf Mölln und Solingen (gemeint ist der Brandanschlag im Jahr 1993, Anm. d. Red.) nicht außen vor lassen, und es gibt eine ganz lange Reihe von Anschlägen und versuchten Anschlägen, die dem vorausgegangen sind.« Denn rechte Gewalt in Deutschland sei ein tief sitzendes strukturelles Problem.

Netzwerk der Betroffenen rechter Gewalt

Das wird auch im »Tekiez« so gesehen. Das Tekiez ist eine Art Gedenk- und Bildungsraum, der aus dem Kiez-Döner hervorgegangen ist – dem Imbiss, in dem Kevin Schwarze von dem Attentäter ermordet wurde. Inzwischen wird das Tekiez von einem Verein betrieben und mit viel ehrenamtlichem Engagement und mit Fördermitteln des Bundes unterstützt. Für das Netzwerk der Betroffenen rechter Gewalt ist das Ladengeschäft im Paulus-Viertel ein wichtiger Anlaufpunkt geworden.

Einer der prägenden Menschen hier ist Ismet Tekin, der am Tag des Attentats im Kiez-Döner arbeitete. Er erklärt, warum er so am Tekiez und der damit verbundenen Arbeit hängt: »Ich habe diesen Schmerz immer noch, und ich werde ihn weiter haben. Durch diesen Ort kann ich weitere Menschen erreichen, meinen Schmerz teilen und fragen: Wie kann man das verhindern?« Deshalb kämpft er um den Erhalt des Tekiez, dessen zukünftige Finanzierung ungewiss ist. Und auch hier wird die Solidarität unter den Betroffenen gelobt: »Es gibt Tage, an denen wir keine Kraft haben und sie uns von den anderen holen. Und an den Tagen, an denen sie keine haben, nehmen sie ihre Kraft von uns.«

Von der anfänglichen Solidarität der Stadtgesellschaft selbst ist nicht viel übrig geblieben.

Tekin beklagt aber auch, dass von der anfänglichen Solidarität der Stadtgesellschaft selbst nicht viel übrig geblieben sei. So habe er versucht, das Tekiez erst als Döner-Grill und dann als Frühstückscafé zu betreiben. Beide Pläne scheiterten an mangelndem Interesse der Öffentlichkeit, wie er nicht ohne Bitterkeit feststellt. Denn: »Wir machen das ja nicht für uns, sondern für eine bessere Gesellschaft.«

Doch nicht nur die Solidarität der breiten Stadtgesellschaft, sondern auch die unter den Opfern rechter Gewalt ist in der Zwischenzeit etwas brüchiger geworden. Anastassia Plethoukina erzählt, dass der Hamas-Terror vom 7. Oktober viele Beziehungen auf die Probe gestellt habe. Es sei kompliziert geworden – auch unter den Überlebenden. »Wir können nicht gegen rechte Gewalt demonstrieren – und gleichzeitig mit ›From the River to the Sea‹ Vernichtungsfantasien vertreten«, sagt die 38-Jährige. Sie betont, dass es auch innerhalb der Palästina-Bewegung bedrohliche Verkürzungen gebe. Diesen könne man aber mit einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Radikalisierungs-Prozessen im Internet entgegenwirken.

»Das Wichtigste ist unsere Zusammenarbeit mit der Polizei«

Aber inwiefern hat sich das Leben der Jüdischen Gemeinde in Halle nach dem Anschlag tatsächlich verändert? Es ist auf jeden Fall sicherer geworden, gerade Orte wie die Synagoge oder eben die Gemeinderäume sind gut geschützt. »Das Wichtigste ist unsere Zusammenarbeit mit der Polizei. Und die ist absolut hervorragend«, lobt Max Privorozki, »ich kann mir kaum vorstellen, dass sie besser sein könnte.«

Auch was die Sichtbarkeit jüdischen Lebens betrifft, hat sich einiges getan, erzählt Privorozki, der gleichzeitig auch der Vorsitzende des Landesverbandes Jüdischer Gemeinden Sachsen-Anhalt ist. So gibt es inzwischen einen Polizeirabbiner in Sachsen-Anhalt, jedes Jahr jüdische Kulturtage und in einem Modellprojekt sogar jüdischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen. Projekte, über die schon zuvor gesprochen wurde, aber: »Offensichtlich ist es nicht, dass das mit dem Anschlag in Verbindung steht, aber zeitlich ist es so, dass das alles nach 2019 möglich geworden ist.« Bei all diesem Lob für das Land fällt auf, was der Gemeindevorsitzende nicht lobt: die Zusammenarbeit mit der Stadt Halle. »Die gibt es«, sagt Privorozki trocken, »aber es ist nicht immer einfach.«

Auch Igor Matviyets, der Mitglied der Gemeinde ist und sich in Halle für die SPD engagiert, aber am 9. Oktober 2019 nicht in der Synagoge war, meint: Es habe in den vergangenen fünf Jahren zahlreiche gute Projekte seitens der Zivilgesellschaft gegeben, aber »seitens der Politik und der Verwaltung hat sich seit dem Anschlag leider wenig verändert«. Es gebe zu wenig institutionalisierte Auseinandersetzung mit den Gründen des Anschlags, sagt Matviyets, und zu wenig Bildungsarbeit.

Nachfrage bei der Stadtverwaltung

Nachfrage bei der Stadtverwaltung, was sie aus dem Anschlag gelernt hat: »Das ist eine schwierige Sache«, sagt Oliver Paulsen, der als Grundsatzreferent unter anderem das Dienstleistungszentrum Integration und Demokratie der Stadt Halle leitet. »Weil wir keine konkrete Situation haben, in der ein Mensch, der in halleschen Institutionen, in einer halleschen Schule oder einem halleschen Jugendklub unterwegs war und sich dann von der Gesellschaft entfremdet und sich auf diesen mörderischen Weg gemacht hat. Das war eine Person, die im Umland sozialisiert wurde. Insofern ist eine direkte Reaktion schwierig. Die Stadt hat aber beispielsweise in der Folge des Anschlags die Stelle ›Koordination für Demokratieförderung‹ geschaffen und besetzt, die auch das Themenfeld Antisemitismus-Bekämpfung bearbeitet.«

Es habe sich aber durch den Anschlag – und nach dem Hamas-Angriff am 7. Oktober noch deutlicher – gezeigt, wie verbreitet Antisemitismus in der Gesellschaft sei. »Mit den ganzen Herausforderungen, die daran hängen, ist es für die Stadt als mittelbarer Akteur teilweise sehr herausfordernd, hier eine steuernde Funktion einzunehmen«, so Paulsen.

Nach dem Anschlag habe man die bestehende Zusammenarbeit mit verschiedenen zivilgesellschaftlichen Akteuren und vor allem mit der jüdischen Gemeinde intensiviert. Wenn es aber um greifbare neue Projekte in Federführung der Stadt geht, ist ziemlich wenig zu hören. So verweist Paulsen etwa auf die jüdischen Kulturtage, die es bereits vor dem Anschlag gab, und wertet den Einstieg des Landes als Erfolg.

Die »Hallianz für Vielfalt« koordiniert die Arbeit mit zivilgesellschaftlichen Akteuren.

Im Rahmen der – ebenfalls vor dem Anschlag bestehenden – »Hallianz für Vielfalt«, die die Arbeit mit zivilgesellschaftlichen Akteuren koordiniert, wurden zudem einige Projekte zur Bekämpfung von Antisemitismus gefördert. Eine feste Arbeitsstruktur zwischen Zivilgesellschaft und Stadt zu etablieren, die sich mit dem Thema Antisemitismus dauerhaft befasst, sei aber nicht gelungen – wegen mangelnden Interesses der Partner, wie Paulsen sagt. Stattdessen gebe es eine »aktuell regelmäßige Zusammenarbeit«.

Drei separate Gedenkveranstaltungen

Auch was die Gedenkveranstaltungen an diesem 9. Oktober betrifft, läuft nicht alles so, wie sich das die Beteiligten wünschen. So gab es zwischen der Stadtverwaltung und der Gemeinde einige Irritationen darüber, wer bei den offiziellen Feierlichkeiten der Stadt für die Jüdische Gemeinde spricht. Inzwischen habe man aber eine Lösung gefunden, heißt es von allen Seiten. Und so finden am fünften Jahrestag des Anschlags in Halle ganze drei separate Gedenkveranstaltungen statt. Bei allen drei Terminen werden Überlebende sprechen, denn die – soweit ist man sich zumindest einig – sollten an einem solchen Tag im Mittelpunkt stehen.

Jom Kippur dagegen gehört ganz der Gemeinde. Auch da haben sich neue Traditionen etabliert, wie Privorozki erzählt. Als am Tag des Attentats Jom Kippur zu Ende gegangen war und viele Überlebende immer noch im St.-Elisabeth-Krankenhaus festsaßen, hat das Pflegepersonal für sie Essen und Trinken organisiert – unter anderem einen Kasten Bier. Deshalb bringt seit damals einer der diensthabenden Ärzte nach dem Ende von Jom Kippur bei der Gemeinde immer einen Kasten Bier vorbei – als Geste der Verbundenheit. Und: Im Gottesdienst wird immer ein Gebet für Kevin Schwarze und Jana Lange gesprochen, die beiden Todesopfer. Das gibt es nur in Halle.

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