ELES

800 Stipendiaten in zehn Jahren

Foto: Tobias Barniske

Es muss 1998 gewesen sein, als Anastassia Pletoukhina erfuhr, dass sie Jüdin ist. Auch vom Holocaust hatte die Zwölfjährige, in Moskau geboren und aufgewachsen, noch nie etwas gehört. Ihre Großmutter erklärte plötzlich, dass sie nach Deutschland reisen würden.

»Dort gibt es keine Juden mehr. Wir fahren dort hin, um die jüdische Gemeinde aufzubauen«, hatte die Oma damals gesagt. »Es war im Mai«, sagt Pletoukhina, heute 33 Jahre alt. Knapp einen Monat später verließ die Familie das Land - in Richtung Lübeck. Die Hansestadt wird für das russische Mädchen zur neuen Heimat - und sie entdeckt ihre Liebe zum Judentum.

BIOGRAFIE Ihren Lebensweg prägt das bis heute und zeigt sich auch an ihrer akademischen Laufbahn: Pletoukhina promoviert an der Universität Frankfurt am Main im Fach Soziologie über »Netzwerke der jüdischen Jugend- und Jungenerwachsenenarbeit in Deutschland«. Eine Arbeit, die vom jüdischen Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES) gefördert wird.

Rund 800 Stipendiaten hat das jüdische Begabtenförderungswerk ELES seit seiner Gründung 2009 gefördert.

Die Akademikerin ist ELES-Alumna und damit eine von rund 800 Stipendiatinnen und Stipendiaten, die das Werk seit seiner Gründung vor zehn Jahren unterstützt hat. Es ist eines der 13 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Studienwerke. Zum Jubiläumsfestakt im Oktober im Jüdischen Museum Berlin kommt auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Rund 90 Prozent der ELES-Stipendiaten sind Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion oder aus Israel - einige religiös, andere säkular geprägt. »Viele verstehen ihre eigene jüdische Identität nicht über die Religion, sondern über die Kultur«, erklärt Pletoukhina. »Sie sind atheistisch, aber jüdisch - und damit ein Beispiel für die innerjüdische Vielfalt«.

Traditionsbewusst, pluralistisch und weltoffen, wie sich auch das Studienwerk versteht: Der Namensgeber, der gebürtige Berliner Ernst Ludwig Ehrlich (1921-2007), war maßgeblich am Wiederaufbau des aufgeklärten europäischen Judentums beteiligt.

OFFENHEIT Von dieser Offenheit hat auch Anastassia Pletoukhina profitiert. Es ist ein ungewöhnlicher Lebensweg, von dem die junge Frau erzählt. In der Jüdischen Gemeinde Lübeck engagierte sie sich als Schülerin in der Jugendarbeit. »Plötzlich begriff ich, warum meine Familie auch schon in Russland manche Dinge machte und andere ließ - weil wir Juden sind.«

Doch ein Teil der Jüdischen Gemeinde sah das anders: Nach der orthodoxen Auslegung der Halacha ist nur Jude, wessen Mutter jüdisch ist. In der Sowjetunion dagegen wurden Identität und Nationalität über den Vater übertragen. Für die Jüdische Gemeinde Lübeck und auch andere jüdische Organisationen war Anastassia – deren Mutter einen jüdischen Vater, aber keine jüdische Mutter hat und die deshalb halachisch keine Jüdin ist – damit »als Nichtmitglied« verzeichnet, sagt die junge Frau. Damit erfüllte sie nicht die Voraussetzung für viele offizielle Programme oder Arbeitsstellen.

 

90 Prozent sind Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion oder aus Israel, einige religiös, andere säkular geprägt.

Bei ELES dagegen war eine jüdische Mutter keine Bedingung für eine Förderung. »Du bist wie Du bist, und Du bist großartig« - dies vermittelte das Studienwerk ihr von Anfang an, ohne eine Bewertung wegen ihrer Herkunft vorzunehmen. »Das hat mich sehr beflügelt«, sagt Anastassia Pletoukhina. Dieses Gefühl hält bis heute an: »Das ist nichts, was einen loslässt.«

MODERN-ORTHODOX Damit ihre Kinder »ohne Probleme überall als jüdisch akzeptiert werden«, ist sie mittlerweile dennoch auch formell zum Judentum übergetreten. Sie beschreibt sich als »modern-orthodox« - nicht so konservativ wie einige andere orthodoxe Strömungen des Judentums, aber auch nicht liberal wie das Reformjudentum.

Erklärend deutet sie auf die orangerote Kopfbedeckung, die sie trägt, weil sie verheiratet ist und unter der ihr langes, dunkles Haar ihr offen über die Schultern fällt: Einige andere orthodoxe Ehefrauen würden das Haar gar nicht zeigen, trügen stattdessen eine Perücke, erklärt sie.

In einer »Bubble« - einer Blase - so wie die Gemeindemitglieder damals in Lübeck will sie nicht leben. Aber durch das Studienwerk, das auch eine Kooperation mit dem muslimischen Studienwerk Avicenna unterhält, bestehe diese Gefahr auch nicht: »Es verbindet die unterschiedlichsten Menschen miteinander«, sagt Pletoukhina. »Man hinterfragt auch die eigenen Positionen.«

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