Statistik

80 Vorfälle in sechs Monaten

Im April wurde in Prenzlauer Berg ein Israeli mit Kippa von einem syrischen Flüchtling mit einem Gürtel geschlagen. Foto: Screenshot

Jede fünfte in Deutschland gemeldete antisemitische Straftat geschieht in Berlin. Allein im ersten Halbjahr 2018 meldete die Polizei 80 Straftaten in der Hauptstadt. Damit ist Berlin so stark mit antisemitischer Kriminalität belastet wie kein anderes Bundesland. Dies geht aus Antworten der Bundesregierung auf quartalsweise Anfragen der Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau und der Linksfraktion hervor. Der »Tagesspiegel« hatte zuerst über die Antwort berichtet. Da erfahrungsgemäß viele Straftaten noch nachgemeldet werden, wird sich die Gesamtzahl aller Wahrscheinlichkeit nach noch erhöhen.

62 Delikte wurden dabei »rechten Ideologien« zugeordnet, acht Delikte »ausländischen Ideologien« und jeweils drei Delikte »religiösen Ideologien« und »linken Ideologien«. Vier Taten konnten nicht entsprechend eingeordnet werden. Die Kri­minalstatistik steht allerdings schon seit Längerem in der Kritik, da Straftaten automatisch »rechten Ideologien« zugeordnet werden, wenn das Motiv unklar ist.

»Aus den jüdischen Gemeinden höre ich, dass die subjektive Wahrnehmung der Bedrohung durch muslimisch geprägten Antisemitismus größer ist, als es in der Kriminalstatistik zum Ausdruck kommt«, sagte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein.

vertrauen Eine Sprecherin der Berliner Innenverwaltung erklärte auf Nachfrage, dass sie die Kritik an der Polizeilichen Kriminalstatistik teilt. Momentan werde eine »Anpassung des bundeseinheitlichen Definitionssystems« geprüft. »Wir dulden Antisemitismus und Gewalt nicht. In keinem Namen. Antisemitisch motivierte Straftaten sind beschämend, nicht hinzunehmen und gehen uns alle etwas an«, sagte Innensenator Andreas Geisel (SPD) der Jüdischen Allgemeinen.

Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) führt es vor allem auf eine höhere Anzeigebereitschaft durch die Arbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) und dem Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus zurück, dass Berlin die Liste von antisemitischen Straftaten anführt.
Sigmount Königsberg, Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde, be­stätigt diese Sicht. Laut Königsberg würden mehr Vorfälle angezeigt. Insofern spiegele die neue Kriminalstatistik eher die Realität wider als frühere Erhebungen.

»Die hohe Zahl antisemitischer Straftaten ist eine ehrliche Annäherung an das Antisemitismusproblem in Deutschland«, meint Behrendt. Besorgniserregend findet er es hingegen, »wenn antisemitische Straftaten nicht als solche erfasst werden oder Opfern das Vertrauen fehlt, diese zur Anzeige zu bringen. Dass es in Bayern nur halb so viele antisemitische Straftaten wie in Berlin geben soll, ist unrealistisch. Dort ist dann das Dunkelfeld höher, weil es beispielsweise keine zivilgesellschaftliche Struktur gibt, die Betroffenen hilft«, sagt Behrendt und betont: »Wir bemühen uns, das Dunkelfeld aufzuhellen.«

Genauere Angaben zu den Tathergängen der antisemitischen Straftaten machte die Bundesregierung jedoch nicht. Nur ein kleiner Teil der Straftaten aus dem ersten Halbjahr 2018 ist öffentlich bekannt geworden. So wurde im Juli ein syrischer Jude mit Davidsternkette in Berlin-Mitte von sieben Männern und drei Frauen mit überwiegend syrischer Herkunft im Alter zwischen 15 und 25 Jahren zusammengeschlagen. Im April wurde ein arabisch-israelischer Kippaträger im Stadtteil Prenzlauer Berg von einem syrischen Flüchtling mit einem Gürtel geschlagen und antisemitisch beleidigt.

mobbing Auch Fälle von antisemitischem Mobbing an Berliner Schulen wurden öffentlich. Der letzte Vorfall ereignete sich im Juni: Ein jüdischer Neuntklässler war an der John-F.-Kennedy-Schule im Stadtteil Zehlendorf über Monate hinweg von Mitschülern gemobbt worden.

Die Rechtsanwältin Vladislava Zdesenko hat ein Anwältenetzwerk gegründet, das Opfer von antisemitischem Mobbing berät. Der Antisemitismus habe sich in den vergangenen Jahren verändert, meint sie. »Er wurde sichtbar und aggressiv. Die Hemmschwelle für antisemitische Beleidigungen und tätliche Übergriffe sowie Mobbing am Arbeitsplatz oder in der Schulklasse ist auf ein alarmierend niedriges Niveau gesunken.« Jüdisches Leben werde »durch sich immer tiefer manifestierende antisemitische Tabubrüche zurückgedrängt und bedroht«, meint Zdesenko. »Die Warnung vor der sich verbreitenden ›Das wird man doch wohl sagen dürfen‹-Mentalität hat sich inzwischen vollkommen in der Salonfähigkeit des Antisemitismus realisiert.«

Doch nicht nur Schüler sind von antisemitischem Mobbing betroffen. Zdesenko sind auch zwei Fälle von jüdischen Lehrerinnen bekannt, die immer wieder von muslimischen Schülern gemobbt würden: von Hitlergrüßen im Klassenraum, verbunden mit »Free Palestine«-Rufen, über ein ausradiertes Israel im Atlas bis hin zu Hakenkreuzen im Ethikbuch.

Aus Angst um ihre Jobs wollen die beiden Lehrerinnen anonym bleiben. Auch an welchen Schulen diese Vorfälle passiert sind, dürfe nicht erwähnt werden. Die Schulleitungen hätten nicht gehandelt, als ihnen von dem Mobbing berichtet wurde. Einer der beiden Lehrerinnen sei lediglich mitgeteilt worden, sie solle nicht so empfindlich sein. Als die andere im Klassenraum den Schriftzug »Jude« und einen gemalten Penis an der Tafel vorfand, habe die Schulleitung vorgeschlagen, sie solle »Anzeige gegen unbekannt« erstatten. Eine Aufklärung über die Fälle sei nie geschehen. Mittlerweile sei allerdings selbstständig der Senat informiert worden.

intervention Auch Sigmount Königsberg kennt solche Fälle. Um mit Vorfällen besser umzugehen, bei denen jüdische Schüler gemobbt werden, schlägt er vor, die Lehrerausbildung neu zu konzipieren. »Es wäre gut, wenn Pädagogen schon zu Beginn ihrer Ausbildung lernen, Antisemitismus bereits im Ansatz zu erkennen und dem mittels Prävention und Intervention zu begegnen«, sagt er. »Bisher ist meine Erfahrung, dass viele Lehrer Antisemitismus hilflos gegenüberstehen, falls sie ihn überhaupt erkennen.«

Thüringen

Jüdisches Kulturfest will Haifa stärker einbeziehen

Beide Städte pflegen seit dem Jahr 2005 eine offizielle Städtepartnerschaft

 17.07.2025

75 Jahre Zentralrat

Zentralratspräsident: Zusammenlegung von jüdischen Gemeinden »schmerzlich«, aber denkbar

Zu wenig engagierter Nachwuchs und mögliche Zusammenschlüsse von jüdischen Gemeinden - so sieht die Lage laut Zentralrat der Juden derzeit aus. Präsident Schuster äußert sich auch zur Rabbinerausbildung in Potsdam

von Leticia Witte  17.07.2025

Stuttgart

Geige, Cello, Kickboxen

Die Musikerinnen Taisia und Elina über den Karl-Adler-Wettbewerb, Spaß und eigene Stücke

von Christine Schmitt  16.07.2025

Jiddisch

Der unerfüllte Traum

Im Rahmen der Scholem-Alejchem-Vortragsreihe sprach der Judaist Gennady Estraikh über die Geschichte von Birobidschan

von Nora Niemann  16.07.2025

München

»Unsere jüdische Bavaria«

80 Jahre Israelitische Kultusgemeinde München und 40 Jahre Präsidentschaft von Charlotte Knobloch: Am Dienstagabend wurde das Doppeljubiläum mit einem Festakt gefeiert. Für einen scharfzüngigen Höhepunkt sorgte der Publizist Michel Friedman

von Christiane Ried  16.07.2025

München

»Ich habe größten Respekt vor dieser Leistung«

Zum 40-jährigen Dienstjubiläum von Charlotte Knobloch wird sie von Zentralratspräsident Josef Schuster geehrt

 16.07.2025

Porträt der Woche

»Musik war meine Therapie«

Hagar Sharvit konnte durch Singen ihre Schüchternheit überwinden

von Alicia Rust  15.07.2025

Berlin

Gericht vertagt Verhandlung über Lahav Shapiras Klage gegen Freie Universität

Warum die Anwältin des jüdischen Studenten die Entscheidung der Richter trotzdem als großen Erfolg wertet. Die Hintergründe

 15.07.2025 Aktualisiert

Andenken

Berliner SPD: Straße oder Platz nach Margot Friedländer benennen

Margot Friedländer gehörte zu den bekanntesten Zeitzeugen der Verbrechen der Nationalsozialisten. Für ihr unermüdliches Wirken will die Berliner SPD die im Mai gestorbene Holocaust-Überlebende nun sichtbar ehren

 15.07.2025