Die Bundesrepublik hat am Mittwoch an den 73. Jahrestag der Pogromnacht von 1938 erinnert – unter anderem in Berlin, Frankfurt und Dresden.
In einer zuvor veröffentlichten Erklärung forderte der Präsident des Zentralrats der Juden, Dieter Graumann, die jüdische Gemeinschaft auf, sich von der »Schoa-Bunker-Mentalität« zu verabschieden. Er selbst sei noch »mit einem verqueren, verquasten, verkrampften Verhältnis zu Deutschland« aufgewachsen, doch in den vergangenen Jahren sei »einiges erreicht worden«, sagte Graumann anlässlich des Jahrestages. Er sei optimistisch in Bezug auf das Verhältnis zwischen den Deutschen und der jüdischen Gemeinschaft. Es sei »ein enormes Kompliment für die Menschen in Deutschland«, wenn Juden heute wieder bereit seien, »ihre Zukunft und die Zukunft ihrer Enkel diesem Land anzuvertrauen«.
Eine Schuldzuweisung an die deutsche Bevölkerung heute lehnt Graumann strikt ab: »Was können die Menschen im Deutschland von heute dafür, was damals geschehen ist?« Jeder stehe aber auch »in einer Verantwortungsgemeinschaft: für Beethoven, für Schiller, für Klinsmann, für Jogi Löw, aber eben auch für Goebbels und Himmler«.
Paulskirche In seiner Rede beim Gedenktag in der Frankfurter Paulskirche sprach Graumann auch über das Ritual der Erinnerung: »Erinnerung ist gewiss kein Selbstzweck. Sie kann jedoch den Zweck haben, unser besseres Selbst zu wecken und zu stärken.« Das Wissen von der Vergangenheit verstärke die Verantwortung für die Zukunft.
Der Zentralratspräsident unterstrich die feste Entschlossenheit, in Deutschland neues jüdisches Leben aufzubauen, »und ihm von nun an eine neue, frische, nachhaltige und sogar auch positive Perspektive zu geben. Wir wollen den Schritt, ja den Fortschritt schaffen vom Gedenken zu den Gedanken und von der Erinnerung zum Engagement heute«. (Redemanuskript: http://www.zentralratdjuden.de/de/article/3468.html)
Berlin In Berlin mahnte der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) bei der Gedenkfeier im Gemeindehaus an der Fasanenstraße, die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. »Zu den schrecklichsten Ereignissen, die sich auf den Straßen der deutschen Hauptstadt abgespielt haben, zählen ohne Frage die Ausschreitungen, die im November 1938 stattfanden. Vor aller Augen wurden Juden gedemütigt, Geschäfte von Juden zerstört, jüdische Friedhöfe geschändet. Zigtausende wurden in die Konzentrationslager deportiert, viele wurden dort ermordet.« Bis heute bleibe dieser 9. November 1938 ein Symbol der Barbarei. Umso wichtiger sei es, an diese Vergangenheit zu erinnern.
Eine permanente Auseinandersetzung mit dem jüdischen Erbe in der deutschen Kulturgeschichte ist auch nach Ansicht von Thüringens Kultusminister Christoph Matschie (SPD) unverzichtbar. »Wir werden es nicht zulassen, dass in Vergessenheit gerät, was zu unserer Geschichte gehört«, betonte Matschie bei einer Gedenkveranstaltung der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen in Erfurt zum Pogrom der Nationalsozialisten von 1938.
In Schwerin erklärte Landtagspräsidentin Sylvia Bretschneider (SPD), dass aus dem 9. November die Lehre gezogen werden müsse, dass die demokratischen Grundwerte zu jeder Zeit verteidigt werden müssen. Wohin es führe, wenn Rechtsextremisten Macht erlangen, dokumentiere insbesondere der 9. November. Die Gedenkveranstaltung mit Landesrabbiner William Wolff fand in der Landesrabbiner-Holdheim-Straße vor dem jüdischen Gemeindezentrum statt. In Rostock gab es ein Gedenken auf dem geschlossenen jüdischen Friedhof im Lindenpark.
Dresden Die Dresdner Gemeinde verbinde mit dem Datum 9. November zwei wichtige Ereignisse, sagte Gemeindevorsitzende Nora Goldenbogen. Der 9. November 1938 war der Tag, der signalisierte, dass eine ganz schlimme Phase auf die Juden in Deutschland und in ganz Europa zukommt«, sagte Goldenbogen am Rande des Gedenkens, bei dem Landesrabbiner Salomon Almekias-Siegl das Kaddisch sang. Der 9. November 2001 besiegele für die Jüdische Gemeinde in Dresden aber auch das Datum, an dem »jüdisches Leben wieder lebt«, betonte Goldenbogen. »Das Datum ist also für uns doppelt besetzt, und vielleicht ist das auch gar nicht schlecht.«
Antisemitismus Am Jahrestag der Pogromnacht forderte das American Jewish Committee (AJC), dass die deutsche Regierung und die Zivilgesellschaft ihre Anstrengungen im Kampf gegen den Antisemitismus verstärken. »Die Bandbreite von antisemitischen Erscheinungsformen und von latentem Antisemitismus im gesamten politischen Spektrum muss mit Nachdruck angegangen werden«, sagte Deidre Berger, Direktorin des Berliner AJC-Büros.
Der Bericht einer von der Bundesregierung einberufenen Expertenkommission zeigt deutlich, dass die bestehenden Bundesprogramme zu eng gefasst sind, um den Antisemitismus nachhaltig zu bekämpfen. (hso, ddk, epd)