In schwierigen Zeiten zusammenhalten
Immer, wenn es zur Eskalation im israelisch-palästinensischen Konflikt kommt, machen wir Juden uns in Deutschland auf bevorstehende Anfeindungen und antisemitische Übergriffe bereit. Das führt zwangsläufig zu besonders umsichtigem Alltagsverhalten. Man erkundigt sich bei Freunden und Verwandten in Israel, ob sie in Sicherheit sind. Viele haben die Red Alert App auf dem Handy, die teilweise minütlich an die fliegenden Raketen und die damit einhergehende Bedrohungslage in Israel erinnert. Die Jüdische Studierendenunion Deutschland ist laut Satzung zur Israelsolidarität verpflichtet, dieses Thema lässt uns aber auch persönlich nicht kalt. Dennoch äußern wir uns nicht zu innenpolitischen Angelegenheiten in Israel, da wir weder israelische Staatsbürger noch Botschafter Israels, sondern in Deutschland lebende Juden sind, die in den meisten Fällen nicht einmal Hebräisch sprechen. Den Unterschied zwischen Juden und Israelis deutlich zu machen, uns aber gleichzeitig an die Seite Israels zu stellen, das ist uns wichtig. In den sozialen Netzwerken kriegen wir in diesen Zeiten häufig Zuschriften – sowohl Texte der Anteilnahme, als auch Beleidigungen und Bedrohungen, das sind wir gewohnt. Trotzdem geht für viele von uns mit dem Konflikt und dessen Auswirkungen eine emotionale Belastung einher. Bei den dramatischen, antisemitischen Ausschreitungen im Mai 2021 machte sich ein Ohnmachtsgefühl in der Community breit. Damals haben wir gemeinsam mit OFEK einen offenen Raum zum Austausch und zur gegenseitigen Unterstützung angeboten. In schwierigen Zeiten hält man besonders zusammen.
Anna Staroselski, Berlin
Die Verunsicherung ist da
Eigentlich hat man sich ausmalen können, was passieren wird, nachdem israelische Sicherheitskräfte Anfang August Bassem al-Saadi in Gewahrsam genommen hatten. Einen Tag später gab die USA den Tod von Al-Qaida-Chef Al-Zawahiri bekannt, und Drohungen oder gar Vergeltungsschläge blieben, ebenso wie die große kritische Berichterstattung der Medien, aus. Also doch noch etwas Hoffnung? Immerhin handelt es sich in beiden, unabhängigen Fällen um Terroristen. Aber schon vor zehn Jahren wusste Natan Sharansky, dass Doppelstandards und Israel nie weit auseinanderliegen. Als am Freitag in Israel die Sirenen aufheulten, dachte man neben den persönlichen Verbindungen an die eigene Gemeinde. Ausgerechnet am Schabbat. Wird man wieder vor Synagogen und Gemeinden ziehen und uns stellvertretend verantwortlich machen, beschimpfen und angehen? Der erste Reflex ist immer die Annahme, dass sich 2014 und 2021 wiederholen. Aus gutem Grund. Auch wenn der Kontext in diesem Fall ein ganz anderer ist. Aber wen interessiert das schon? »Spiegel Online«, wo man mit Schlagzeilen wie »Israel bombardiert Gazastreifen – fünf Minuten vor vereinbarter Waffenruhe« aufwartet, schon mal nicht. Und die »taz«, die auf der Titelseite ein brennendes Haus mit der Überschrift »Israel startet Wahlkampf« zeigt, erst recht nicht. Wie dem auch sei: In solchen Situationen zeigt sich, wie vorteilhaft es ist, einen Messenger-affinen Rabbiner zu haben, der direkt für die Mitglieder da ist. Denn es wird viel geschrieben und telefoniert. Die Verunsicherung ist da. Leider.
Oliver Dainow, Hanau
Unruhig und traurig
Vergangenen Mai saß ich während der Raketenangriffe aus Gaza schwanger und mit Kleinkind auf dem Arm im Schutzbunker in Israel – während »Operation Breaking Dawn« saß ich am Wochenende mit meiner Familie in Berlin. Doch auch aus der Ferne macht mich die dauerhaft aufblinkende Raketenwarn-App unruhig und traurig. Ich denke an die Familien, für die jeder Gang zur Toilette, jede Dusche ein Wettlauf gegen die Zeit ist, und an die Kinder, die traumatisiert werden. Was mich aber wütend – und zum Teil hilflos – macht, ist die Doppelmoral, mit der Israel in den (sozialen) Medien behandelt wird: Die »taz« titelt, »Israel startet Wahlkampf«, Comedian Enissa Amani stellt Israel als Übermacht, die Kinder tötet, dar – und verbreitet diese Falschinformation an über eine Million Follower. Die UN-Abgeordnete Francesca Albanese, deren Mann für den palästinensischen Präsidenten arbeitet, der seit 16 Jahren keine demokratischen Wahlen mehr abgehalten hat, verurteilt Israel als »unmoralisch«. Warum unterstützt das Gros der Menschen lieber eine islamistische Terrororganisation, die die Auslöschung von Juden verfolgt und nach acht Minuten Waffenruhe direkt wieder Raketenangriffe startet, statt den einzigen jüdischen Staat dieser Welt, der lediglich seine Existenz verteidigt? Warum sich nicht alle einig sein können, dass man zwar über Politik – wie in jedem anderen Land – diskutieren und uneinig sein kann, aber es bei Terroranschlägen, Judenvernichtung und »From the River to the Sea!«-Rufen keine zwei Meinungen geben darf. Das sollte Konsens sein. Alles andere ist Doppelmoral – und antisemitisch.
Sarah Cohen-Fantl, Berlin
Sehr frustriert
Ich bin in Israel aufgewachsen und 2017 nach Berlin gezogen. Hier arbeite ich als Managerin von »Zusammen Berlin«, einem Verein von Israelis im Ausland. Mit den neuesten Raketenangriffen auf mein Heimatland habe ich leider gerechnet. Der Konflikt hatte sich in den Tagen zuvor quasi angekündigt. Für uns Israelis ist das eine traurige Routine. Mein erster Gedanke galt der Familie. Meine Tante wohnt in Eschkol, direkt an der Grenze zu Gaza. Ich habe sie angeschrieben und mit ihr gesprochen. Auch mit dem Rest meiner Familie und vielen Freunden in Israel war ich in Kontakt. Zum Glück geht es allen gut. Als Israeli im Ausland hat man beinahe das Gefühl, während solcher Angriffe wäre es besser in Israel zu sein, weil man sich dann weniger Sorgen machen muss. In solchen Situationen checkt man die Nachrichten ohne Pause. Mir fällt es schwer, davon Abstand zu nehmen. Es ist immer dieselbe Geschichte: Erst fliegen Raketen, daraufhin gibt es eine Operation, schließlich wird ein Waffenstillstand vereinbart. Dann fängt alles wieder von vorne an. Ich hoffe, dass das irgendwann aufhört, aber ich bin sehr frustriert. Ich wünschte, ich könnte optimistischer sein.
Maya Wolffberg, Berlin
Tapfere Art
Ich habe das alles mit Erschrecken wahrgenommen, auch wenn es eigentlich eine Situation ist, in der Israel sich permanent befindet. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie wir kurz vor der Pandemie gemeinsam in Israel waren und es an einem Tag einen solchen Angriff auf Tel Aviv gab. Das hat uns sehr beeindruckt, wie die Bevölkerung reagiert hat. Wir haben es selbst nur dadurch mitbekommen, dass eine so eigenartige Stimmung herrschte. Erst am Abend erfuhren wir, dass es ein Angriff auch mit Raketen aus Gaza war. Uns haben dann Leute aus Deutschland angerufen, die Angst um uns hatten. Die tapfere Art, mit der die Menschen dort auf den Alarm reagierten, hat mir wirklich imponiert. Für mich wäre es eine schreckliche Situation, ständig damit leben zu müssen, dass es immer wieder zu Angriffen kommt – egal, ob es Raketen oder Terroristen sind. Es ist eine Situation, die aufgrund ihrer Permanenz für alle Menschen in Israel und darüber hinaus schwer zu ertragen ist. Wir haben keine Verwandten dort, aber einige unserer Mitarbeiter stammen aus Israel. So kommt der Krieg von allen Seiten etwas näher.
Nora Goldenbogen, Dresden
Wie soll ich das meinem Sohn erklären?
Ich habe israelische Nachrichten gehört, und für uns war es einfach nur erschreckend. Niemand hätte das erwartet, es war eine »Überraschung« – auch für viele Israelis. Das in Berlin zu erleben, war seltsam, denn ich sehe die Alarme auf der Red-Alert-App, bin gedanklich in Israel, aber eben hier in Berlin. Ich habe an meine Familie, meine Freunde, meine Verwandte gedacht, die im Bunker Schutz suchen mussten. In der Nacht bin ich stündlich aufgewacht, um zu sehen, wo die Raketen niedergegangen sind. Mich bewegt vor allem eine Sache: In Israel gibt es so viele Kinder, die Posttraumata haben. Die Tochter meiner Verwandten in Aschdod hat Angst, auch wenn die Sirenen nicht heulen. Sie hat sogar Angst, alleine ins Bad zu gehen. Für sie endet der Krieg nicht mit einem Waffenstillstand. Darüber lese ich nirgendwo. In Israel ist es ein riesiges Thema. Als Vater dachte ich: Wie kann ich meinem Sohn die Situation erklären? Muss ich ihm immer die Wahrheit erzählen, obwohl sie schrecklich sein kann? Wie kann ein Zweijähriger verstehen, dass er 15 Sekunden hat, um zu einem Bunker zu rennen? Ich habe besonders an die Kinder in Israel und an ihre Eltern gedacht.
Rafi Heumann, Berlin
Ich war sprachlos
Ich habe Familie sowie enge Freunde in Israel und bin regelmäßig dort. Die Eskalation des Konflikts in Gaza begann, als ich schon zum Schabbat-Gottesdienst in der Synagoge war. Deshalb hat das zuerst niemand mitbekommen. Unser Rabbiner und unsere Rebbetzin sind Israelis, selbst sie wussten zu diesem Zeitpunkt nichts davon. Es herrschte Schabbat-Stimmung, und wir haben noch auf den Frieden in der Ukraine angestoßen. Als ich nach Schabbat mein Handy wieder einschaltete, war ich sprachlos. In einem Gruppen-Chat mit meinen israelischen Freunden fand ich 52 ungelesene Nachrichten. Sie hatten sich alle mit Kindern und Haustieren in die Schutzräume begeben. Was mich wirklich in Angst versetzt hat, ist ein Video, das eine meiner Freundinnen von dem Park in ihrer Nähe aufgenommen hat: Dort ist eine Rakete eingeschlagen, die nicht explodiert ist. Wenn ich daran denke, rast mein Herz. Meine Freundin hat ein kleines Kind, und ich selbst habe sie erst vor einer Weile besucht. Zusammen waren wir in genau diesem Park spazieren. Anastassia Pletoukhina, Berlin
Ungewöhnlich wenig Menschen auf den Straßen
Teile meiner Familie, viele enge Freunde und der Vater meiner Tochter leben in Israel. Ich selbst pendle zwischen Berlin und Tel Aviv und bin mindestens alle zwei Monate dort – auch zu dem Zeitpunkt, als der Raketenbeschuss auf Israel anfing. Ich saß am Freitagabend zusammen mit meiner Tochter und meinem Cousin im Auto – wir waren auf dem Weg zu unseren Verwandten, um Schabbat zu feiern –, als ich davon erfuhr. Nachdem wir angekommen waren, konnte ich die Bilder dann im Fernsehen sehen. Es war nicht wie sonst oft, dass die Raketen einfach ohne Vorwarnung fliegen. Es wurde vorher darauf hingewiesen, dass es dazu kommen könnte. Ich kenne das auch schon: 2014 habe ich während des Gaza-Kriegs in Tel Aviv gewohnt, wo drei Monate lang die Sirenen heulten. Das geht schon seit vielen Jahrzehnten so, und die Israelis haben gelernt, damit zu leben. Trotzdem waren sie vergangenes Wochenende sehr vorsichtig – an den Stränden und auf den Straßen waren ungewöhnlich wenig Menschen zu sehen.
Mirna Funk, Berlin
Grundsätzlich finde ich Krieg schrecklich
Ich habe viele Freunde und Verwandte in Israel. Für sie alle ist es inzwischen Alltag, dass sie beim Aufheulen der Sirenen zum Bunker rennen. Dabei haben sie nur 30 bis 90 Sekunden Zeit, um den nächsten gesicherten Raum zu erreichen. Glücklicherweise haben wir in Israel den »Iron Dome«, der die meisten Raketen in der Luft abfängt. Ich bin froh, dass die Maccabiah nicht in die Zeit der Raketenangriffe fiel. Eine Freundin hat mir gerade ein Bild aus dem Bunker geschickt. Nach etwa zehn Minuten konnte sie ihn wieder verlassen. Sie sagt, die jüngeren Wissenschaftler und Kollegen suchen alle den Bunker auf. Manche Ältere, die schon viele Kriege erlebt haben, gehen nicht immer in den Schutzraum und vertrauen dem Iron Dome. Grundsätzlich finde ich Krieg schrecklich. Aber die gezielte Tötung von Terroristen, die international auch als solche eingestuft werden, finde ich richtig.
Jonathan Ben-Shlomo, Freiburg
Zusammengestellt von Helmut Kuhn, Katrin Richter und Joshua
Schultheis