Das ist für Lena», sagt Jekaterina Lotoshe bestimmt. Sie deutet mit dem Kopf auf ein knopfgroßes glänzendes Abzeichen, das sie sich stolz neben all die anderen Orden an ihre Brust heftet. Mit der anderen Hand streicht sie wehmütig über ein Schwarz-Weiß-Foto. Es zeigt eine junge Frau in Uniform. Lena, 18 Jahre alt. Gefallen 1943 an der Südwestfront in der Ukraine im Kampf gegen die Nazis.
«Sie war meine beste Freundin und genauso alt wie ich», erzählt Jekaterina Lotoshe und liest laut die Widmung auf der Rückseite des Porträts vor. «›Vergiss mich nicht‹ – als hätte sie geahnt, dass sie fallen würde. Dabei sollte sie eigentlich heute hier mit uns feiern», sagt die 90-Jährige mit Tränen in den Augen.
Gefallene Freunde So wie Jekaterina Lotoshe hatten viele jüdische Kriegsveteranen am vergangenen Freitagvormittag Fotos gefallener Freunde und Kameraden mitgebracht. Und ihre Orden: Held der Sowjetunion, Orden des Vaterländischen Krieges, israelische Ehrungen, russische Medaillen. Mit Stolz zeigen die ehemaligen Rotarmisten ihre Auszeichnungen.
Denn zum Feiern gab es allen Grund: Anlässlich des 70. Jahrestages des Sieges über Nazideutschland hatte der Zentralrat der Juden die Mitglieder des Bundesverbandes der Veteranen, Ghetto- und KZ-Gefangenen sowie Überlebenden der Leningrader Blockade zu einem großen Festempfang mit russisch-jüdischem Buffet ins Centrum Judaicum eingeladen.
Während die Veteranen im Kuppelraum an langen festlich gedeckten Tischen Platz nahmen, spielten auf der Bühne Boris Rosenthal und Leo Ellenzweig russische, hebräische und jiddische Liedklassiker wie «Katjuscha», «Schalom Alejchem» und «Mir leben ejbig», begleitet von Schülern des Jüdischen Gymnasiums Moses Mendelssohn.
Ehrennadel Der Zentralrat würdigte die Anwesenden dabei erstmalig mit einer Ehrenurkunde und einer Ehrennadel – einer orangefarbenen Flamme, die aus einem Stern entspringt. Aus jüdischen Gemeinden in ganz Deutschland waren etwa 80 Veteranen angereist. Zur Begrüßung bekräftigte Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats, das Anliegen gerade junger Juden in Deutschland, «das Gedenken an unsere Veteranen stets mit einem festen Platz in unseren Herzen zu ehren».
In seiner Ansprache wandte sich Mark Dainow, Vizepräsident des Zentralrats, mit warmherzigen, persönlichen Worten an die ehemaligen Kämpfer der Roten Armee. Er würdigte insbesondere ihre Tapferkeit, ihren Mut, ihre Loyalität und vor allem ihre Selbstlosigkeit im Kampf gegen die Nazis. «Sie haben uns eine Zukunft gegeben und zum Überleben unseres jüdischen Volkes in Europa beigetragen», sagte Dainow.
Dass die Veteranen erst Deutschland von den Nazis befreit und dann der neuen Heimat ihre Kinder und Enkel anvertraut hätten, habe zur Schaffung einer «jüdischen Gegenwart und Zukunft in diesem Land maßgeblich beigetragen», sagte Dainow. Er wies nachdrücklich darauf hin, dass sich in der Roten Armee 500.000 jüdische Soldaten dem Kampf gegen die Nazis gestellt hatten.
«Das sind 500.000 Gründe, stolz zu sein und diesen Tag, so schmerzhaft er erreicht wurde, zu feiern. Sie alle sind und bleiben für immer unsere Helden und großen Vorbilder», sagte der Zentralrats-Vize. Der Sieg sei zu einem hohen Preis errungen worden – allein in den Reihen der Roten Armee hatten 200.000 jüdische Soldaten ihr Leben gelassen.
Auszeichnung Der 9. Mai sei ein fester Bestandteil im Gedenken der Gemeinden, unterstrich Gemeinderabbiner Jonah Sievers. Der Tag sei ein «Tag des Stolzes, für Sie und für uns alle, auch in Zukunft». Nach dem Grußwort und dem Gebet El Male Rachamim des Rabbiners überreichte Dainow gemeinsam mit den Präsidiumsmitgliedern Barbara Traub und Milena Rosenzweig-Winter sowie dem Berliner Gemeindevorsitzenden Gideon Joffe und Schülern des Mendelssohn-Gymnasiums jedem einzelnen Veteran die Ehrennadel des Zentralrats.
Warmherzig Dass der 9. Mai erstmalig in diesem großen festlichen Rahmen begangen wurde, fand bei den Veteranen viel Zuspruch. «Es ist eine sehr gelungene Veranstaltung, wunderbar vorbereitet, warmherzig und persönlich», lobte Robert Rosenberg. Der 89-Jährige emigrierte als Zehnjähriger mit seiner Familie aus Berlin nach Leningrad, wo er die Blockade überlebte.
Die Ehrennadel des Zentralrats heftet er neben seine vielen anderen Auszeichnungen, darunter die Medaille für die Verteidigung von Leningrad. «In der Gemeinde feiern wir jedes Jahr den Tag des Sieges. Dass uns der Zentralrat zum 70. Jahrestag eine so schöne Würdigung bereitet, erfreut mein Herz», sagte der ehemalige Vorsitzende des Klubs der Kriegsveteranen, der 1993 nach Berlin zurückgekehrt war.
Petro Feldmann, Vorsitzender des Bundesverbandes der Veteranen aus Stuttgart, freute sich ebenfalls über die Ehrung durch den Zentralrat. Er hat in Kursk gekämpft, mit seiner Einheit den Dnjepr überquert, die Ukraine, Polen und Deutschland befreit. Am 9. Mai war er schon bis nach Prag vorgerückt. Viel Zeit zum Feiern sei damals nicht geblieben, erzählt er. Heute, 70 Jahre später, erhalte er die Anerkennung, für die er seit Gründung des Bundesverbandes der Kriegsveteranen eingetreten sei. In einer mitreißenden Dankesrede fand er klare Worte.
Geschichtsbild«Wir feiern den Tag des Sieges mit Tränen in den Augen», sagte der 90-Jährige. «Vor Schmerz über die Verluste. Aber auch deshalb, weil der Beitrag der Roten Armee in deutschen Geschichtsbüchern noch immer nicht gebührend beleuchtet wird.» Mit besonderer Freude überreichte er daher Schülern des Jüdischen Gymnasiums den gerade erschienenen dritten Band der Trilogie Lebende Erinnerungen für die Jugend.
Ein Kapitel darin hat Miron Sucholutzki aus Kiew beigesteuert. «Ich habe überall gekämpft. Am 9. Mai 1945 standen im Baltikum noch 22 Divisionen, die Hitler als Verstärkung heranholen wollte – das waren die Deutschen, die Leningrad belagert hatten. Wir haben sie eingekreist und ihnen die Kapitulation überbracht», erinnert sich der 93-Jährige stolz. «Vorher hieß es immer, die Alliierten hätten den Sieg gebracht und die Sowjetunion habe ›auch geholfen‹ – die Wahrheit sieht anders aus. Jetzt erinnert man sich an uns.» Deswegen freue er sich auch über die Rede von Petro Feldman. Dieser sei gut aufgetreten, sagt Scholutzki, «sehr konsequent».
Der Opfer des Zweiten Weltkrieges gedachten die Anwesenden mit einer Schweigeminute. «Ich wünsche mir, dass unsere nachfolgenden Generationen so hingebungsvoll sein werden, wie wir es waren», sagte Jekaterina Lotoshe und drückt das Foto ihrer Jugendfreundin Lena an ihr Herz. «Wir haben die Menschen damals beschützt. Ich wünsche mir, dass unsere Kinder und Enkel ebenfalls so handeln werden.»