Seit 190 Jahren wird in der Jüdischen Gemeinde Recklinghausen ein vielfältiges und buntes Leben praktiziert. In feierlichem Rahmen wurde dieses Jubiläum am Abend des 24. September in der Synagoge begangen. Zahlreiche Gäste aus Politik und Kirchen sowie öffentliche Amtsträger erwiesen der Gemeinde die Ehre. »Ich freue mich, dass Sie so zahlreich gekommen sind, um mit uns zu feiern«, begrüßte Mark Gutkin, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Kreis Recklinghausen, die Gäste. Mit dem musikalischen Vokalensemble, das den Psalm 1 von Louis Lewandowski vortrug, begann der Festakt.
Kippa Cay Süberkrüb, Landrat des Kreises Recklinghausen, mahnte, wachsam zu sein vor den Menschen, die rechtes Gedankengut verbreiten wollen, und appellierte, gegen Antisemitismus und Rassismus Stellung zu beziehen und Flagge zu zeigen. »Wir bauen Brücken und beseitigen Brüche«, sagte Süberkrüb. »Es kann doch nicht sein, dass jüdische Mitbürger davor gewarnt werden müssen, eine Kippa zu tragen. Das bereitet mir große Sorgen. Ich bin mir jedoch sicher, dass wir den Rechten den Nährboden entziehen können.«
Recklinghausens Bürgermeister Christoph Tesche (CDU) empfand es als Ehre, mit der Jüdischen Gemeinde zu feiern. »Das Schönste ist, dass wir gemeinsam die Feierlichkeiten begehen«, betonte Tesche. »Wir dürfen nicht vergessen, sondern müssen uns an die Gräueltaten erinnern«, forderte der Bürgermeister nachdrücklich. »Mit Toleranz, Barmherzigkeit und Nächstenliebe überwinden wir die Anfeindungen von rechts. Wir leben gemeinsam mit unseren jüdischen Freunden in großer Verbundenheit.«
Auch Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden, stellte seine Sicht der aktuellen Situation dar und sah im vergangenen Jahr viel Besorgniserregendes, aber auch Positives. Die Demonstrationen für Toleranz machten ihm Mut, sagte Lehrer. Der Aufmarsch der Neonazis und die Angriffe auf Rabbiner erfüllten ihn hingegen mit großer Sorge.
»Es gab viel zu viele Neonazi-Aufmärsche und -Konzerte sowie offene Sympathiebekundungen für Neonazis bei Fußballspielen«, zählte Lehrer die Schattenseiten des vergangenen Jahres auf. Er wies darauf hin, dass der Antisemitismus nicht nur in Deutschland wachse, sondern in ganz Europa. Das sei viel Schatten, dem aber auch Licht entgegenstrahle. Lehrer nannte die erfolgreichen Maccabi Games in Budapest, große Demonstrationen für Toleranz und Menschenrechte oder auch die Recklinghäuser Spendenaktion für eine Torarolle.
zeitzeugen »Wir dürfen nicht den Fehler machen, nur auf den Schatten zu blicken«, sagte der Vizepräsident des Zentralrats der Juden. »Wir sollten unsere Aufmerksamkeit auf das Licht lenken und uns vor Augen führen, mit welch unfassbarer Energie die Überlebenden des Zweiten Weltkrieges überall in Deutschland neue Gemeinden aufgebaut haben«, appellierte Lehrer. Zeitzeugen seien wichtig, um den Zahlen ein Gesicht zu verleihen. Sie schafften Empathie und könnten durch kein Geschichtsbuch ersetzt werden. Filmaufnahmen kämen den Schilderungen und Erfahrungen der Überlebenden nicht gleich.
Eindringlich beschwor Lehrer die Zuhörer: »Es sollte uns allen ein Herzensanliegen sein, den noch wenigen Überlebenden unter uns einen würdigen Lebensabend zu bereiten. Nicht alle sind finanziell gut gestellt«, betonte Lehrer. »Wir sind es den Überlebenden schuldig, die Flamme der Erinnerung am Leuchten zu halten. Gerade dann, wenn sie nicht mehr unter uns sind.«
In vielen Familien gerate die NS-Zeit aus dem Blick. Ein entscheidender Punkt sei das Fehlen der Zeitzeugen. Es sei daher nicht erstaunlich, wenn jüngere Menschen nur wenig Interesse für das Thema Schoa aufbrächten. Wichtig seien daher Initiativen, wie sie in Recklinghausen verwirklicht würden.
Seit 2006 verleiht die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Kreis Recklinghausen den Dr.-Selig-Auerbach-Preis. »Sie motivieren junge Leute, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen und Zugang zum historischen Geschehen zu finden«, sagte Lehrer. »Denn wir müssen ja auch bedenken, dass Jugendliche heute ganz anders geprägt sind als noch vor 20 Jahren.«
Zum Jubiläum will die Gemeinde eine neue Tora schreiben lassen.
Zwi Rappoport, Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe, betonte, dass die deutsche Demokratie, die er als sehr wehrhaft empfindet, jüdischem Hass vieles entgegensetzen könne.
Einige Überlebende kehrten nach dem Krieg in ihre Heimat zurück, lösten sich aus ihrer Erstarrung und gaben jüdisches Wissen weiter. »Nach der Wiedervereinigung wurden die Zuwanderer aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion gut aufgenommen. Das war eine große Integrationsleistung«, resümierte Rappoport.
Geschichte Bereits im 15. und 16. Jahrhundert gab es in Recklinghausen jüdisches Leben. 1829 wurde der Grundstein für die heutige Gemeinde mit dem Eintrag in das Vereinsregister gelegt. Am 20. und 21. August 1880 konnte die erste Synagoge eröffnet werden. Als die Mitgliederzahlen auf rund 500 stiegen, wurde der Wunsch nach einer neuen Synagoge laut, die 1906 an der Limperstraße in Recklinghausen eingeweiht wurde.
Einen tiefen Einschnitt bildet die Pogromnacht 1938, in der die Synagoge zerstört wurde. Die letzten 110 Gemeindemitglieder wurden 1942 nach Riga deportiert. Nur 15 Überlebende kehrten nach Recklinghausen zurück, um eine neue Gemeinde aufzubauen. Die dritte Synagoge wurde schließlich 1955 eröffnet. Nach der deutschen Wiedervereinigung und dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte die Gemeinde eine Renaissance. Die Mitgliederzahl erhöhte sich rasant auf 600, sodass der Bau einer neuen Synagoge beschlossen wurde. Die Eröffnung erfolgte 1997. Zwei Jahre später löste sich die Gemeinde aus der Verbundgemeinde Bochum-Herne-Recklinghausen und ist seitdem wieder selbstständig.
Passend zum Neujahrsfest erklang zum 90. Jubiläum schließlich auch der Schofar. Außerdem plant die Gemeinde, eine neue Torarolle schreiben zu lassen.