Kurz nach zehn Uhr erscheint der erste Name auf dem Asphalt: Johanna Aaron. Eine mit Warnweste und Knieschonern ausgestattete ältere Dame schreibt ihn, kniend, mit weißer Kreide in Druckschrift auf die Fahrbahn des Frankfurter Mainkais. Die Straße ist zur Zeit versuchsweise für den Autoverkehr gesperrt.
Projekt Es ist ein Sonntagvormittag in der vorletzten Augustwoche, und das künstlerische Gedenkprojekt »Schreiben gegen das Vergessen« nimmt zwischen Main und Altstadt seinen Lauf. Bis vergangenen Donnerstagnachmittag haben Freiwillige insgesamt 11.908 Namen in alphabetischer Reihenfolge aufgeschrieben. Es sind Namen von Frankfurter Jüdinnen und Juden, die in der Schoa ermordet wurden.
Das Jüdische Museum Frankfurt habe sie zur Verfügung gestellt, sagt Margarete Rabow. Die 1955 geborene Künstlerin und Filmemacherin hat das Projekt initiiert. Insgesamt hätten sich etwa 350 Teilnehmer angemeldet, berichtet Rabow. Darunter seien sechs Schulklassen. Auch Frankfurter Kommunalpolitiker wie Kulturdezernentin Ina Hartwig (SPD) sowie Bürgermeister und Kämmerer Uwe Becker (CDU) hätten sich angekündigt.
Liste Rabow ist unermüdlich unterwegs: Sie koordiniert ihre Mitarbeiter und beantwortet Fragen der Teilnehmer. »Sie sind in einer Stunde mit der Liste durch. Das schaffen Sie«, sagt sie zu einer Dame, die gerade begonnen hat zu schreiben.
Jeder Teilnehmer erhält eine Seite mit 60 Namen. Drei Kameraleute machen mit einer analogen 16mm-Filmkamera durchgehend Einzelaufnahmen von allen aufgeschriebenen Namen.
Am Ende des Projekts soll daraus ein Film von etwa zehn Minuten Länge entstehen, der 24 Bilder, also Namen, pro Sekunde zeigt. Zudem wird die fünftägige Aktion filmisch dokumentiert. Sollte es regnen, werden die Namen vom Asphalt verschwinden.
Kreide »Man muss immer ein zeitgemäßes Format finden, um Menschen zu erreichen und Gedenken weiterzutragen«, beschreibt Rabow das Ziel ihres Projekts. In ähnlicher Form hat sie es bereits in Wien umgesetzt. Im Juni 2018 schrieben dort zahlreiche Teilnehmer etwa 66.000 Namen der österreichischen Todesopfer der Schoa mit Kreide auf die Prater Hauptallee. Die nahezu endlos erscheinende Strecke von Namen abzulaufen, sei ein visuelles Erlebnis, sagt die Künstlerin. Auch in Wien ist ein analoger Film mit allen Namen entstanden. Er mache sprachlos, betont Rabow.
In Frankfurt geht das Schreiben schnell und konzentriert voran. Das in der Beschreibung noch etwas abstrakt klingende Konzept erschließt sich in der Umsetzung. Die Namen – und ihre schiere Anzahl – sprechen für sich. Allein die Einträge mit den Familiennamen Adler und Baer füllen mehrere Spalten.
Stolpersteine Jogger, Spaziergänger und Radfahrer verfolgen das Geschehen neugierig, einige bleiben stehen und fragen nach. Die Teilnehmerin Isolde Lorenz sagte der Jüdischen Allgemeinen, sie kenne Gunter Demnigs »Stolpersteine« und sehe darin eine gute Möglichkeit, innezuhalten. Margarete Rabows Gedenkprojekt sei eine Fortführung, um im Alltag sichtbar zu machen, dass es wichtig sei, nicht zu vergessen.
Nicht zu vergessen, ist auch für Lucy Bommersheim wichtig. Die 14-jährige Schülerin ist aus dem etwa 15 Kilometer entfernten Karben angereist, um Namen zu schreiben. Was viele Teilnehmer empfinden, kann Margarete Rabow gut nachvollziehen: »Nichts bleibt besser haften als Dinge, die man mit emotionaler Beteiligung tut.«