Von Goebbels erlogen, von der Nachwelt übernommen. »Trauen Sie bloß keinem Historiker«, rät Meir Schwarz gleich zu Beginn seines Vortrages im Jerusalemer Van Leer Institute. Der emeritierte Professor zählt auf: 91 Tote, 267 zerstörte Synagogen. Eine falsche Wahrheit, nennt der 84-Jährige das, die immer wieder voneinander abgeschrieben wurde. Die wahren Opferzahlen liegen nämlich sehr viel höher. Von rund 1.700 zerstörten Synagogen redet Schwarz, viele niedergebrannt, die meisten demoliert und bald darauf abgetragen. In der direkten Folge des Pogroms kamen viele Hundert Juden um. Viele fühlten sich in den Freitod getrieben. Die Zuhörer , die meisten sogenannte Jeckes, erinnern sich, denn sie haben ihre eigenen Synagogen noch brennen sehen. Auch Schwarz, gebürtiger Nürnberger, sah die Ruine der Synagoge an der Essenweinstraße.
Zeugnisse Jede Seite eine Anklage und eine stiller Zeuge zugleich: Die von ihm initiierte Gedenkbuchreihe, die das von Schwarz geleitete Synagogue Memorial in Jerusalem mit akademischen Partnern in Deutschland herausgibt, gilt heute als Standardwerk, sein Verdienst – dass Wikipedia die Erkenntnisse seines Institutes zitiert, sein Lohn. »Mit dem zweiten Bayern-Band ist das achte Buch erschienen«, erzählt später Meir Schwarz mit Stolz einer interessierten Besucherin. Auch sie wird fündig, im ersten Band von Mehr als Steine. »Dies war die Synagoge, in der mein Vater jeden Morgen betete«, erzählt sie und zeigt auf das Ruinenbild der Ohel Jakob Synagoge in München.
Die treibende Kraft ist ein persönliches Anliegen. Seine gesamte Familie kam um, er war der einzige, der mit einem Kindertransport noch rechtzeitig aus Deutschland kam. Aber es ist auch der Drang eines Forschers, erklärt der frühere Naturwissenschaftler, das ihn zum weiteren Hinterfragen anspornt: Ist Herschel Grynspan der wahre Mörder des deutschen Botschaftsangestellten vom Rath? Hat dieses Ereignis in Paris am 7. November 1938 den Pogrom ausgelöst? Dass das verhängnisvolle Pogrom eine spontane Volksreaktion war, glaubt heute kaum jemand. Schwarz meint aber, dass es nicht einmal die Schüsse in Paris gab. »Ich habe keine Beweise, aber auch die bisherige Ansicht kann nicht nachgewiesen werden«, sagt er. Nach Einsicht in geheime Dokumente und Untersuchung aller Informationen gibt es an der bekannten Version zu viele Ungereimtheiten. Ob das Geheimnis irgendwann gelüftet werden kann, bleibt fraglich.
Erkenntnisse Zum Beginn des Synagogue Memorial’s stand 1985 der 50. Jahrestag des Pogroms. Ein Heft sollte die Synagogen und die Gemeinden vorstellen, die Ziel des Rassenhasses wurden. »Unsere Untersuchungen ergaben jedoch, dass ein Heft nicht ausreichen würde, irgendetwas stimmte mit den Zahlen nicht«, erinnert sich Schwarz. Auch heute, 25 Jahre später, wundert er sich darüber, dass nicht viel früher der Verdacht auf die zu niedrig angesetzten Bilanzen fiel. »Man hätte einfach die damals bereits bekannten Synagogen zusammenzählen müssen.« Stattdessen schrieben Historiker voneinander ab, sagt er. Bis heute werden noch Synagogen entdeckt, vor allem in ehemals deutschen Gebieten im heutigen Polen oder in den neuen Bundesländern, die in keinen Statistiken geführt werden. »Es gibt einen dringenden Bedarf, auch diese Synagogen zu dokumentieren und den Gemeinden ein Andenken zu schaffen.«