Alle leben unter einem Dach, jeder in seinem Zimmer, und manchmal treffen sich alle im Wohnzimmer – auch das ist Familie.» So beschrieb Avichai Apel, orthodoxer Gemeinderabbiner in Frankfurt/Main, beim Gemeindetag des Zentralrats in Berlin die Unterschiede der jeweiligen religiösen Ausrichtungen im Judentum, wie sie derzeit in Deutschland praktiziert werden.
Welche Strategien die verschiedenen Strömungen entwickeln, um insbesondere junge Menschen für Religion zu interessieren, diskutierten Rabbiner Apel, die liberale Frankfurter Rabbinerin Elisa Klapheck, der Berliner Gemeinderabbiner und Leiter des Bildungszentrums von Chabad Lubawitsch, Yehuda Teichtal, und der liberale Rabbiner Walter Homolka mit dem Vizepräsidenten des Zentralrats, Abraham Lehrer, in einer Podiumsdiskussion über «Jüdische Religion zwischen Tradition und Moderne».
Die Gesprächspartner thematisierten dabei das Spannungsfeld zwischen der Tradition und den modernen Erfordernissen der heutigen Zeit sowie mögliche zeitgemäße Neuinterpretationen.
Flexibilität Die Skizzierung des Problems – «Wie kann es gelingen, junge Menschen auch nach Bar- und Batmizwa im Gottesdienst zu halten?» – berührte zugleich andere Fragen: Wie flexibel darf Tradition sein? Hat das Judentum nicht zuletzt auch dank seiner Anpassungsfähigkeit jahrtausendelang überlebt? Inwiefern hat das liberale Judentum dazu beigetragen, Juden zu halten, die sonst der Gemeinschaft verloren gegangen wären? Wo liegen für die Orthodoxie mögliche Hürden für Veränderung?
Bar- und Batmizwa Rabbinerin Klapheck wollte die Grundfrage nicht nur am Besuch des Gottesdienstes festmachen. Dass sei ein «zu enger Winkel». Zunächst stellte sie klar, dass unmittelbar nach der Bar- und Batmizwa das «Alter der Selbstfindung» einsetze. Die Synagoge als Ort der Gemeinschaft widerspreche diesem natürlichen Drang, sich selbst zu finden.
«Wenn man aber dann zurückkommt, mit 19 oder 20 Jahren», so Klapheck, fehle vor allem eines: eine gesellschaftliche, politische Dimension im Religiösen. Diese «Vorstellung von Religion aus einer anderen Zeit» sei langweilig und spreche junge Leute nicht an. Daher gebe es etwa im egalitären Minjan Frankfurt für 16-Jährige die Initiative einer «Kabbalat Tora», bei der Jugendliche Judentum mitgestalten können, etwa durch ein Praktikum. Denn Judentum sei eben auch eine Haltung, meinte Rabbinerin Klapheck.
Rabbiner Apel stimmte ihr insofern zu, als die Phase nach der Bar- und Batmizwa schwierig sei. Er plädierte dafür, den Jugendlichen mehr Mitspracherecht in den Synagogen zu geben. Für ihn stelle sich die «Frage des Dialogs zwischen verschiedenen Altersgruppen». Apel sieht den Rabbiner dabei als Vermittler, etwa zwischen Gabbaim und Jugendlichen.
Augenhöhe Rabbiner Teichtal verwies auf «die Argumente der Weisen», jeden Beter «al pi darko», also individuell, zu unterstützen. Der Schlüssel zu mehr Engagement liege in der Übernahme von Verantwortung, etwa für andere Kinder und Jugendliche. Ein Rabbiner müsse den Jugendlichen auf Augenhöhe begegnen.
Rabbiner Homolka sprach unterschiedliche «Intensitätskurven» an – je nach Lebensalter setze man sich mehr oder weniger mit Religion auseinander. «Hängepartien» gebe es nicht nur nach der Bar- und Batmizwa, sondern auch, wenn man eine berufliche Karriere verfolgt.
Respektvoll und vorsichtig-harmonisch – so stellte sich der Austausch unter den Referenten vielen Zuhörern dar. Doch sobald Moderator Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden, nachfragte, woran ein gemeinsamer Schabbatgottesdienst von Orthodoxen und Liberalen beim Gemeindetag gescheitert war, und ein Teilnehmer aus dem Publikum wissen wollte, warum Eltern als Zielgruppe in der Diskussion ausgeklammert blieben, wurden die Spannungen offenbar. Yehuda Teichtal sagte, er habe kein Problem mit einem gemeinsamen Gottesdienst, für ihn seien «alle Juden Brüder», er habe «ausnahmslos Respekt für alle».
Die Tora sei schließlich der Inhalt, die «Verpackung» jedoch könne individuell sein. Rabbinerin Klapheck stimmte daraufhin einer Teilnehmerin aus dem Publikum zu, die meinte, auf dem Podium werde vermeintliche Harmonie präsentiert. Es sei «falsch, Gemeinsamkeiten zu behaupten, dann aber Spaltung zu leben», befand Klapheck.
mechiza Man müsse keinen gemeinsamen Gottesdienst anstreben, meinte Rabbiner Homolka. Liberale Juden seien an einer Mechiza, einer Trennwand zwischen Männern und Frauen, nicht interessiert. Auch das sei Ausdruck gegenseitigen Respekts – die Grenzen der jeweils anderen Ausrichtung zu akzeptieren. Ohnehin werde die Frage der Ausrichtung, ob orthodox oder liberal, immer unwichtiger. Laut neuer Statistik würden «die Richtungskämpfe» einer «Intensität des jüdischen Erlebens» weichen und jüdische Identität und Selbstwahrnehmung sich über andere Aspekte als Religion allein definieren, so Homolka.
Bei der Nachfrage von Moderator Abraham Lehrer bezüglich «Schwierigkeiten der Orthodoxie bei Veränderung» verwies Rabbiner Avichai Apel auf die Quelle der Tora als «Etz Chaim», Baum des Lebens. Neues sei mit dieser Quelle nicht verbunden, sagte Apel. Man müsse «Dinge beschränken, um die Quelle zu erhalten». So blieb es denn – bei allem respektvollen Umgang miteinander – bei einem «Treffen im Wohnzimmer».
Das Thema Angst vor Veränderung sprach auch David Bollag, orthodoxer Rabbiner in Efrat im Westjordanland, in seinem Vortrag «Pluralisierungen jüdischer Identität und Praxis – Schwächung oder Stärkung der jüdischen Gemeinschaft?» an. Bei der Auseinandersetzung zwischen Liberalen und Orthodoxen gehe es nicht nur um Weltanschauung, sondern auch um Psychologie: Wer einräume, dass andere vielleicht auch recht hätten, müsse befürchten, dass diese stärker oder erfolgreicher würden als man selbst.
Als Jude in der Lage zu sein, anders Praktizierende als gleichwertig jüdisch zu akzeptieren, sei «Ausdruck einer inneren Stärke», so Bollag. Diese Fähigkeit sei auch außerhalb der eigenen Gemeinden unabdingbar, sagte er mit Verweis auf die Eröffnungsrede von Zentralratspräsident Josef Schuster beim Gemeindetag: «Weil es uns nur auf diese Art und Weise gelingen wird, unser Anliegen nach außen zu vertreten.»
Patrilinearität Ein weiteres kontroverses Thema wurde bei der Diskussion «Ab und zu Schabbat? Jüdischer Vater und nichtjüdische Mutter – Identitätskrise?» angesprochen. Lea Wohl von Haselberg und Ruth Zeifert schilderten die Gefühlslage von Kindern jüdischer Väter, die in Deutschland nur nach einem Übertritt zum Judentum Gemeindemitglieder werden können.
Der orthodoxe Rabbiner Zsolt Balla aus Leipzig und Masorti-Rabbinerin Gesa Ederberg aus Berlin brachten Empathie zum Ausdruck, betonten jedoch, an den Regeln der Halacha könne nicht gerüttelt werden.