Tagung

Zwischen Glauben und Grundgesetz

Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet»: So steht es in Artikel 4 des Grundgesetzes von 1949.

Doch wie sieht dies im Alltag aus? Welche Rechte auf ein religiöses jüdisches Leben sichern die Gesetze in der Bundesrepublik Deutschland, und wo sind die Grenzen? Diese und viele andere Fragen vertiefte in der vergangenen Woche eine hochkarätig besetzte Tagung der Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden in Berlin.

religionsfreiheit Dass die Formulierung zur Religionsfreiheit in Artikel 4 eigentlich eine «Notlösung» war, weil die Väter und Mütter des Grundgesetzes sich nicht einigen konnten und das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften aus der Weimarer Reichsverfassung übernommen hatten, erklärte Peter Müller, Richter des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, beim abschließenden Podiumsgespräch am Freitag.

Zuvor hatten mehr als 100 Experten, unter ihnen zahlreiche Juristen und Politiker, sich in Workshops und Diskussionen mit dem Tagungsthema auseinandergesetzt.

Zuvor hatten mehr als 100 Experten, unter ihnen zahlreiche Juristen und Politiker, sich in Workshops und Diskussionen mit dem Tagungsthema auseinandergesetzt, unter anderen mit unterschiedlichen Staatsverträgen und Regelungen etwa zu Prüfungen an jüdischen Feiertagen in einzelnen Bundesländern.

Am Mittwoch begrüßten zunächst Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, und der parlamentarische Staatssekretär im Bundesjustizministerium, Benjamin Strasser (FDP), die Teilnehmer. «Wir sprechen heute hier nicht davon, ob, sondern wie jüdisches Leben heute in einem Verhältnis zum deutschen Recht steht. Diesen Übergang vom Ob zum Wie möchte ich besonders betonen: von den Neuanfängen von jüdischem Leben in Deutschland nach 1945 als eine Zwischenstation zur Ausreise, als Provisorium, hin zu einem klaren Bekenntnis zum Bleiben», sagte Schuster.

vertrauensverhältnis Als Beispiel, wie sich das gewachsene Vertrauensverhältnis manifestiere, nannte er die Unterzeichnung des Staatsvertrags über die jüdische Militärseelsorge. Dass dieses Verhältnis auch infrage gestellt werden könne, «müssen wir zur Kenntnis nehmen. Wir haben das beispielsweise in den letzten Jahren in der Beschneidungsdebatte erlebt», so der Zentralratspräsident.

Er warnte anschließend: «Wenn heute in unserem direkten Nachbarland Frankreich eine Kandidatin in der Stichwahl um das höchste Staatsamt ein Ergebnis von fast 42 Prozent erzielen kann mit einem Programm, welches das Tragen von religiösen Symbolen im öffentlichen Raum verbieten will, dann zeigt uns das (…), wie fragil ein vermeintlich selbstverständlich geglaubter gesellschaftlicher Konsens zur Religionsfreiheit sein kann».

Justiz-Staatssekretär Strasser kündigte an, die neue Regierungskoalition habe sich «religionspolitisch einiges vorgenommen», etwa beim Thema Ablösung der Staatsleistungen an Kirchen. Er verwies dabei auf einen Antrag von FDP, Bündnis 90/Die Grünen und der Partei Die Linke, der vor einem Jahr im Bundestag abgelehnt worden war.

Gleichzeitig betonte Strasser in Zusammenhang mit dem Beschneidungsgesetz von 2012: «Wer lebendiges jüdisches Leben in Deutschland wirklich will, der muss auch den Rechtsrahmen so setzen, dass dies in der Praxis möglich ist. Das gilt für Beschneidungen genauso wie für die Möglichkeit des Verschiebens von Prüfungsterminen aufgrund eines religiösen Schreibverbots.»

HAUSORDNUNG Zentralratsgeschäftsführer Daniel Botmann sprach metaphorisch vom Judentum als einem großen Haus mit einer «Hausordnung». Wie bei jedem Haus mit mehreren Parteien sei eine Hausverwaltung nötig, «die als Ansprechpartnerin nach innen und außen fungiert und darauf achtet, dass die Hausordnung eingehalten wird. In unserem Fall hat diese Hausverwaltung den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts und nennt sich ›Zentralrat der Juden in Deutschland‹. Eine Hausverwaltung macht es in der Regel nicht allen recht und doch ist sie der Garant dafür, dass das Haus gepflegt und funktionsfähig ist», erläuterte Botmann.

«Eine Kippa ist kein Modeaccessoire, und ein Schreibverbot entspringt keiner Laune.»

daniel botmann, geschäftsführer des zentralrats der Juden

Dies bedeute auch, «dass laut der Hausordnung im jüdischen Haus an bestimmten Tagen nicht geschrieben werden darf, Männer und teilweise auch Frauen eine Kippa tragen, Paarhufer geschächtet und Jungen beschnitten werden». Eine Kippa sei «kein Modeaccessoire» und ein Schreibverbot entspringe keiner Laune, unterstrich der Geschäftsführer des Zentralrats der Juden.

Angelika Noa Günzel, Leiterin des Militärrabbinats in Berlin, sagte: «Autonomie und Gesetz scheinen ein Gegensatz zu sein. Autonomie scheint für Selbstbestimmung zu stehen; das Gesetz hingegen wird mit Einschränkungen und Fremdbestimmung assoziiert.» Doch das traditionelle Judentum vertrete hierzu streckenweise eine andere Auffassung. Es gehe «primär um den Vollzug des Gesetzes, die Erfüllung des Willens des Ewigen, also, so sollte man meinen, nur um Fremdbestimmung».

Gleichzeitig aber werde es durch das Ge- und Verbot von Verhalten teilweise erst möglich, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und etwas zu erreichen, was auf andere Weise nicht möglich gewesen wäre.

Ein gutes Beispiel hierfür seien die Regeln des Schabbats. «Die Beschränkung schafft Freiraum für anderes: Zeit für Gespräche, für die Familie und Freunde, für das Gebet, Zeit zum Lesen, zum Schlafen, die Fragen nach dem, was wirklich von Bedeutung ist für das eigene Leben», betonte Günzel.

SCHÄCHTEN Mit welchen Problemen die jüdische Gemeinschaft in ganz Europa konfrontiert ist, schilderte Peter Unruh, Juraprofessor an der Universität Göttingen und Präsident des Landeskirchenamtes der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, in seinem Vortrag zum Thema Schächten.

«Kaschrut und Schechita gehören zu den religiösen Identitätsmerkmalen des Judentums. Zudem ist für signifikante Strömungen des Judentums das Verbot der vorherigen Betäubung der Schlachttiere für die Gewinnung koscheren Fleisches konstitutiv», sagte Unruh und bilanzierte: «Die Zulässigkeit des betäubungslosen Schlachtens ist in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht einheitlich geregelt.»

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) habe jüngst in seinem Schächten III-Urteil festgestellt, dass die Abwägung zwischen dem Unionsgrundrecht auf Religionsfreiheit und der unionsrechtlichen Tierschutzklausel einem mitgliedstaatlichen Verbot des betäubungslosen Schlachtens nicht entgegenstehe: «Allerdings ist nach Auffassung des Gerichts auch eine gegenteilige Regelung unionsrechtskonform, denn den Mitgliedstaaten komme ein weiter Wertungsspielraum zu.»

mehrheitsgesellschaft Doron Kiesel, wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung, betonte zu Beginn der Tagung, das individuelle und kollektive Recht der Religionsfreiheit dürfe durch Anfechtungen der Mehrheitsgesellschaft nicht eingeschränkt werden, da es ansonsten immer wieder verändert und entsprechend dem Zeitgeist interpretiert werden könne.

«Jüdische Familien können dieses Land erst dann als ihr Land akzeptieren und anerkennen, wenn ihnen die basalen in der jüdischen Religion und Tradition vermittelten Formen des Feierns und des Trauerns, des Speisens und der Gottesverbundenheit nicht abgesprochen werden. Der Entzug oder die Verkümmerung dieses Rechts entspräche einer zunächst juristischen und schließlich demografischen Ausgrenzung der jüdischen Gemeinschaft aus Deutschland», erklärte Kiesel.

In der Abschlussdiskussion am Freitag unter dem Titel «Die jüdische Gemeinschaft als Minderheitsreligion in Deutschland – Zwischen Eigensinn und Anpassung» wurden teils sehr konkrete Fragen angesprochen. Hetty Berg, Direktorin des Jüdischen Museums Berlin, erkundigte sich nach Möglichkeiten, um auch nichtjüdischen Mitarbeitern an Rosch Haschana und Jom Kippur freizugeben – an den hohen jüdischen Feiertagen ist das Museum für Besucher geschlossen. «Es gibt kein Gesetz in der Bundesrepublik Deutschland, das dem entgegensteht», antwortete Verfassungsrichter Müller.

verpflichtung Juliane Seifert (SPD), Staatssekretärin im Bundesinnenministerium, zeigte sich «sehr beeindruckt angesichts der Fülle des Programms». Die deutsche Gesellschaft werde vielfältiger, und «Mehrheiten verschieben sich», was Anhänger verschiedener Religionen angehe. Die Grundlage unserer Verfassung sei mit der Verpflichtung des Staats «nach wie vor sehr gut und aktuell».

Darüber hinaus müsste aber sichergestellt werden, dass verschiedene Gruppen und Religionen sich in der Gesellschaft wiederfinden und teilhaben könnten: «Neutralität bedeutet nicht, dass man nicht miteinander redet, sondern Verantwortung», so Seifert.

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