Seit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels dürfen die in der Tora vorgeschriebenen Tieropfer nicht mehr dargebracht werden, und der Hohepriester (hebräisch: Kohen Gadol) kann an Jom Kippur seinen im Wochenabschnitt Achare Mot (3. Buch Mose 16) beschriebenen Dienst (hebräisch: Avoda) nicht mehr verrichten.
Ein fester Bestandteil der Avoda an Jom Kippur war die feierliche Zeremonie, bei der der Hohepriester zwei Lose zog, die über das Schicksal der zwei Ziegenböcke entschieden, die sich im Vorhof befanden (Talmud, Joma 37a). Der eine Bock wurde im Heiligtum als Sündopfer (hebräisch: Chatat) dargebracht, der andere – oft »Sündenbock« genannt – wurde kurze Zeit danach fortgeschickt in die Wüste.
LOSE Die Mischna schildert, wie die Auslosung erfolgte: »Der Kohen Gadol rührte in der Urne um und holte die zwei Lose hervor. Auf dem einen Los stand ›für Gott‹, auf dem anderen stand ›für Azazel‹. Der Priesterpräses stand zu seiner Rechten und der Obmann der Familienwache zu seiner Linken. Geriet das Los ›für Gott‹ in seine Rechte, so sprach der Priesterpräses zu ihm: Kohen Gadol, erhebe deine Rechte; geriet das Los ›für Gott‹ in seine Linke, so sprach der Obmann zu ihm: Kohen Gadol, erhebe deine Linke. Alsdann legte er die Lose auf beide Ziegenböcke« (Joma 39a).
Der Talmud will wissen, warum das Umrühren in der Urne notwendig war. Seine Antwort – »damit er nicht ziehe und dann hervorhole« – bedarf einer Erklärung. Was für ein Interesse könnte der Hohepriester haben, um das Ergebnis der Auslosung zu manipulieren? Es dürfte ihm doch völlig egal sein, welcher Bock wo landet.
Raschi (1040–1105) erläutert die Antwort der Gemara: Ohne Umrühren in der Urne könnte der Kohen Gadol die Wahl dahingehend beeinflussen, dass das Los »für Gott« in seiner Rechten landet – dies wäre ein gutes Zeichen! Durch diese Erläuterung verstehen wir, dass es bei der Lose-Zeremonie nicht nur darum ging, das Schicksal der zwei Ziegenböcke festzulegen.
wunder Die Zuschauer achteten auf Zeichen und Wunder! Von einem Wunder kann deshalb die Rede sein, weil im Talmud berichtet wird: »Während der 40 Amtsjahre Simons des Gerechten geriet das Los ›für Gott‹ stets in die Rechte; von da ab geriet es zuweilen in die Rechte und zuweilen in die Linke (…) 40 Jahre vor der Zerstörung des Heiligtums geriet das Los ›für Gott‹ niemals in die Rechte« (Joma 39ab).
Dass der Hohepriester 40 Jahre hintereinander dasselbe Los in die rechte Hand bekommt, ist so unwahrscheinlich, dass sogar Skeptiker die Erscheinung eines Wunders nicht bestreiten werden.
Der israelische Mathematiker Eli Merzbach hat die statistische Wahrscheinlichkeit bei der Auslosung am Versöhnungstag durch das folgende Beispiel verdeutlicht: Würde der Kohen Gadol nicht nur an Jom Kippur Lose ziehen, sondern an jedem Tag des Jahres, und zwar jeweils nicht nur einmal, sondern 1000-mal, dann bräuchte er nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit drei Millionen Jahre, um dasselbe Ergebnis 40-mal hintereinander zu erzielen.
RECHTSORDNUNGEN Unsere Weisen haben die Gebote der Tora in zwei Gruppen eingeteilt: »Meine Rechtsordnungen übt und meine Gesetze hütet, um in ihnen zu wandeln« (3. Buch Mose 18,4).
Was sind Rechtsordnungen (hebräisch: Mischpatim)? »Das sind diejenigen Gesetze, die, wenn sie nicht geschrieben worden wären, doch geschrieben werden müssten: Verbote von Götzendienst, Unzucht, Blutvergießen, Raub und Lästerung des göttlichen Namens.«
Und was sind Gesetze (hebräisch: Chukim)? »Das sind diejenigen Vorschriften, gegen die Satan und die Völker der Welt Einwendungen erheben: Essen von Schweinefleisch, Tragen von Mischgewebe, die Chalitza an der Schwägerin, die Reinigung der Aussätzigen, der fortzuschickende Bock« (Joma 67b).
ritual Das Sündenbock-Ritual zählt also zu den Chukim. Warum der Ewige dieses Gebot erlassen hat, können wir nicht wissen. Wohl aber können wir uns mit der Frage beschäftigen: Was lehrt uns das Ritual mit den zwei Ziegenböcken?
Eine symbolische Deutung des Zeremoniells hat Jizhak Abravanel (1437–1509) in seinem Torakommentar vorgeschlagen. Abravanel sieht in beiden Ziegenböcken einen Hinweis auf das Volk Israel. Sie symbolisieren die Alternative, vor der Israel steht: Der Bock, der im Heiligtum als Sündopfer dargebracht wird, steht für eine Lebensführung gemäß den Anweisungen des Ewigen, die zu einer Annäherung an Gott führt. Wandelt Israel aber nicht auf dem richtigen Weg und entfernt sich von Gottes Weisungen, so wird es fortgeschickt werden wie der Sündenbock. Das Ritual an Jom Kippur erinnert demnach an die uns gegebene Wahlfreiheit und an die Möglichkeit des Exils.