Fast jedes Mal wird es in den Medien als »Wunder« gefeiert, wenn eine Trennung siamesischer Zwillinge gelingt – Kinder, die im Mutterleib zusammengewachsen sind. Zuletzt war dies Mitte Oktober der Fall, als in New York zwei 13 Monate alte Brüder erfolgreich getrennt wurden, die mit ihren Köpfen zusammengewachsen waren. Als Rabbiner habe ich mich in die Problematik vertieft, wie das Judentum eine solche Operation beurteilt – ein Eingriff, der schwere Risiken mit sich bringt.
Jodie und Mary Die Frage beschäftigt gelegentlich auch die Gerichte. Ende September 2000 musste ein britisches Berufungsgericht über das Leben weiblicher siamesischer Zwillinge entscheiden. Nichts zu tun, hätte zwei tote Mädchen bedeutet, ein Eingriff dagegen »nur« eine Tote, urteilte das britische Gericht.
Es wurde entschieden, Jodie und Mary zu trennen. Jodie überlebte den Eingriff in Manchester, Mary starb. Einer der britischen Richter beschrieb seine Gefühle mit den Worten: »In dem Augenblick, in dem das Messer in die aneinandergewachsenen Körper eindringt, ist dieses ein direkter Angriff auf Mary.«Die ethische Frage lautet also: Dürfen wir das Leben des einen Zwillings zugunsten des Lebens des anderen opfern?
In den Beneluxländern und England gab es viel Kritik an der Entscheidung des britischen Gerichts. Da die Eltern die Operation nicht wollten, fragten sich viele Ethiker, ob ihnen nicht mehr Mitspracherecht hätte eingeräumt werden müssen. Einige behaupteten, es sei ein Präzedenzfall geschaffen, der es erlaube, eine unschuldige Person zu töten.
Wirbelsäule Bei der Geburt schienen die Unterkörper von Mary und Jodie zusammengewachsen zu sein. Sie teilten sich dieselbe Wirbelsäule, hatten aber jeweils eigene Arme und Beine. Mary war für ihre Sauerstoff- und Blutzufuhr total von ihrem Schwesterchen Jodie abhängig. Bei Ärzten und Ethikern herrschte große Verzweiflung. Würde Jodie es überhaupt schaffen? Würden sie später Schuldgefühle plagen, weil sie auf Kosten ihres Schwesterchens überlebt hatte?
In der Tat, eine schwierige und dramatische Entscheidung. Jedoch finde ich viele Reaktionen auf die Entscheidung des Britischen Gerichtshofes unüberlegt und heuchlerisch. Ist es wirklich so viel besser, die Eltern selber entscheiden zu lassen, welches ihrer Kinder am Leben bleiben darf und welches nicht? Ich bin froh, dass eine übergeordnete Instanz die Verantwortung übernommen hatte, denn die Eltern konnten und durften nicht (auf jeden Fall nicht alleine) entscheiden. Ein »salomonisches« Urteil zu fällen, überfordert Eltern vollkommen. Es war auf alle Fälle richtig, eine neutrale Instanz miteinzuschalten und nur minimale Beratung zuzulassen.
Rettung Dass manche tiefgläubige Eltern sich in solchen Fällen auf G’ttes Wille berufen, nicht zu operieren, ist ihr gutes Recht. Aber deshalb gleich beide Töchter sterben zu lassen, geht mir einen Schritt zu weit. G’ttes Wille steht in der Tora geschrieben. Im 2. Buch Mose 21,19 heißt es, dass man versuchen sollte, soweit wie möglich zu genesen. Im Fall der siamesischen Zwillinge bedeutet das: retten, was es zu retten gibt.
Das Ausmaß der Gewissensbisse, mit denen der überlebende Einling zurückbleibt, hängt von der Frage ab, ob die Eltern sich verpflichtet fühlen, davon zu erzählen, dass das Kind ursprünglich Teil eines Zwillingspaares war. Weil großer psychologischer Schaden zu befürchten ist, finde ich, dass dies (wenn heutzutage überhaupt möglich) untersagt werden müsste. Denn das Judentum verbietet es, Menschen mit unnötigen schmerzhaften Gefühlen zu belasten.
Erbteil Prinzipiell stellt sich die Frage, ob siamesische Zwillinge als eines oder als zwei Wesen betrachtet werden sollten – und dabei geht es nicht zuletzt um Erbfragen. Zu König Salomo wurde laut Tosefta einst ein Mann mit zwei Köpfen gebracht. Er versuchte festzustellen, ob es sich um eine oder um zwei Persönlichkeiten handelte.
Hierzu schüttete er heißes Wasser über den einen Kopf, worauf auch der andere Kopf vor Schmerzen aufschrie. Er folgerte daraus, dass »beide Köpfe nur eine gemeinsame Quelle besaßen, und somit die siamesischen Zwillinge als eine Persönlichkeit zu sehen seien. Daraus folgerte er, dass dem doppelköpfigen Sohn nicht das doppelte Erbteil zusteht, sondern dasselbe wie einem weiteren Bruder, der »nur« einen Kopf besaß.
Persönlichkeiten Doch andere Zwillinge, die aus der Literatur oder allgemein bekannt sind, werden eindeutig als zwei unterschiedliche Persönlichkeiten betrachtet. Rabbiner Jacob Reischer veröffentliche 1709 hierüber eine Abhandlung. Er vermerkte eingangs, »dass es nichts Neues unter der Sonne gibt«, und nennt zwei talmudische Aussagen, laut derer Adam und Eva als siamesische Zwillinge erschaffen wurden, die man erst später trennte. Rabbiner Reischer sieht darin einen Hinweis darauf, dass siamesische Zwillinge unterschiedliche Persönlichkeiten sind.
Auf die jüdische Rechtsprechung hat diese Einlassung unterschiedliche Auswirkungen. Einerseits kann demnach jeder Teil siamesischer Zwillinge, die nach der Geburt nicht getrennt wurden, einen eigenen Erbteil beanspruchen, aber andererseits werden beide niemals heiraten können, da die Vorschriften über Intimität der Anwesenheit einer dritten Person widersprechen.
Blutkreislauf Eine halachische Autorität aus dem 17. Jahrhundert, Rabbiner Jacob Hagis, beschreibt einen Fall, in dem der Körper des einen Zwillings wesentlich kürzer war als der Körper des anderen. Seine Beine reichten nicht einmal so weit, dass seine Füße den Boden berühren konnten. Sie hatten offenbar einen gemeinsamen Blutkreislauf, so Rabbiner Hagis. Er betrachtete sie dennoch als eigenständige Personen.
Ein anderer Fall beschäftigte 1977 den großen Rabbiner Mosche Feinstein: In Philadelphia wurden Zwillinge geboren, die an der Brust zusammengewachsen waren. Dabei war ein normales Herz mit vier Kammern mit einem schwachen Herzen verbunden, das nur zwei Kammern enthielt. Die Eltern baten Rabbiner Feinstein um seine Genehmigung, die Zwillinge voneinander trennen zu dürfen.
Din Rodef Der Rabbiner erlaubte den Eingriff mit Berufung auf einen talmudischen Begriff – das »Gesetz des Nachrückenden«. Dieses beinhaltet einen Passus, der besagt, dass ein Mensch, der als »Verfolger« (Rodef) gilt, getötet werden darf, wenn er einen anderen lebensgefährlich bedroht und keine anderen Möglichkeiten bestehen, das Opfer zu retten. Wenn, wie im geschilderten Fall, davon auszugehen ist, dass der Schwächere der Zwillinge das Leben des Stärkeren bedroht, kann dieser Schwächere als ein »Nachrückender« betrachtet werden.
Der Autor ist Dayan beim Europäischen Beit Din und war Rabbiner der Niederlande. Er ist jetzt Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf.