Laschon Hara

Zunge im Zaum

In dieser Woche möchte uns die Tora an die Gesetze erinnern, die für unsere physische und geistige Reinheit relevant sind. Dabei tritt eine Hautkrankheit in Funktion einer Bestrafung in den Vordergrund: Tsora’at – auf Deutsch: Aussatz.

Wenn ein Mensch sich zu sehr daran gewöhnte, böse über andere zu denken, zu sprechen oder gar Lügen zu erzählen, wurde seine Haut rötlich, juckte stark und bedeckte sich mit weißen Schuppen. Verstand er die Warnung nicht und verspritzte seine Galle weiter nach rechts und links, wurde sein Haus von Schimmel befallen, und seine Kleidung fing allmählich an, nach Moder zu stinken.

Lassen Sie bitte kurz Ihrer Fantasie freien Lauf: Stellen Sie sich vor, all die Ihnen bekannten Leute, die Laschon Hara und Rechilut (üble Nachrede) betreiben, würden muffig-modrig riechen und müssten sich ständig kratzen. Lustig? Spätestens dann nicht mehr, wenn wir uns unserer eigenen verbalen Vergehen bewusst werden.

Wahrheit Gegen das Verbot von Laschon Hara verstößt nämlich jeder, der etwas Negatives oder Nachteiliges über eine Person berichtet, auch wenn es durchaus der Wahrheit entspricht. »Diese blöde Kuh hat schon wieder …«, »Das gibt’s doch nicht! Wer so viel Geld bekommt, sollte …« – Beispiele dafür zu finden, ist gar nicht schwer. Man muss nur an die Gespräche denken, die man bei der Arbeit, auf der letzten Party oder auch zu Hause gehört hat.

Wenn wir schlecht über unsere Kinder sprechen und sie über uns, zerstören wir damit vollkommen leichtsinnig nicht nur unseren Schalom Bait, den häuslichen Frieden, sondern fügen ihnen auch dauerhaft Schaden an ihrem Charakter zu.

Rechilut betreiben wir immer dann, wenn wir einer Person erzählen, was jemand über sie oder ihn Schlechtes gesagt hat. »Du lobst sie noch? Weißt du denn nicht, was sie über dich hinter deinem Rücken erzählt?« »Sie wollen mehr Gehalt? Ha! Ihr Kollege berichtete eben, dass Sie nie etwas pünktlich erledigen und auch noch unfreundlich zu den Kunden sind!« Auch hier fallen uns leicht Beispiele aus dem Alltag ein.

Es verletzt uns am meisten, wenn wir erfahren, dass jemand schlecht über uns spricht. Da kann Freundlichkeit in puren Hass umschlagen und das eigene Verhalten innerhalb weniger Sekunden zerstörerisch werden – oft sogar ohne dass man sich vergewissert, ob das Erzählte auch stimmt. Böse Worte hinterlassen in manchen Fällen tiefe seelische Wunden und haben nicht selten zur Folge, dass Menschen sich vor der Welt verschließen oder gar depressiv werden.

Reinheit Die Tora sieht folgende Bestrafung eines solchen Verhaltens vor: »Abgesondert soll er bleiben, außerhalb des Lagers sei seine Wohnung« (3. Buch Mose 13,46). Eine Ausgrenzung ist also die Folge eines solchen Verhaltens. Im Talmud wird gesagt: »Wer Menschen auseinander bringt, indem er sie gegeneinander aufhetzt, der soll selbst von anderen entfernt werden« (Erachin 16b). Das geschieht nicht als Strafe, sondern damit er fühlt, was er getan hat, und daraus lernt. Wir sind alle fehlbar. Doch geistige Reinheit kann nur jemand erreichen, der bewusst danach strebt und sich der eigenen Fehlbarkeit sowie der Fehlbarkeit aller anderen Menschen bewusst ist und jeden neuen Lebenstag nutzt, um mit sich selbst ein Stück weit ins Reine zu kommen.

Denn auch wenn eine Person 250, 500 oder 1000 Facebook-Freunde hat oder sich sogar in einer echten großen Gesellschaft befindet, kann sie sich doch in ihrem Inneren vollkommen isoliert fühlen. Dann nämlich, wenn sie über die Menschen um sich herum schlecht denkt. Das Streben nach innerer Reinheit erlaubt uns dagegen, jedem Menschen mit Liebe zu begegnen, gut über ihn zu denken und zu sprechen. Dann müssen wir auch nicht so fassungslos schauen wie Reb Jakow in der folgenden Erzählung.

Krankheit Eines schönen Tages, als Reb Jakow 120 Jahre alt wurde, nahm ihn G’tt zu sich. Reb Jakow hatte eigentlich schon eine ganze Weile darauf gewartet, denn zuerst verlor er seine über alles geliebte Frau Rosa, und dann erlag sein ältester Sohn einer schweren Krankheit. Reb Jakow selbst wurde immer gebrechlicher. Seine Augen sahen kaum noch etwas, und bei jedem Wetterwechsel taten seine alten Knochen entsetzlich weh. »Ich habe nichts zu befürchten«, murmelte Reb Jakow oft vor sich hin. »Ich war ein ehrlicher Jude, habe jeden Tag dreimal gebetet, Armen geholfen, vier Kinder großgezogen.«

Nun steht der alte Mann vor dem obersten himmlischen Richter und reibt sich die Hände in Erwartung seiner Belohnung. Der Richter öffnet ein Buch und liest aus seinem Leben vor. Nicht lange dauert es, bis ein kalter Schauer den gebeugten Rücken des alten Mannes herunterläuft, denn der Richter ist schnell mit den Verdiensten fertig und beginnt bereits, die Sünden aufzuzählen.

»Aber Moment!«, schreit Reb Jakow entsetzt auf. »Es fehlt so viel! Wo sind die Schabbesgäste? Die großzügigen Spenden? Das Fasten? Die Psalmen?« Er fällt in Ohnmacht. Als er aufwacht, hört er den Richter mit ruhiger Stimme und ganz monoton weiterreden: »Schon zwei Tage nach Rosch Haschana unkoscheren Räucherfisch gegessen.« Reb Jakow wird es wieder schwarz vor Augen.

Nicht lange danach wird auf unsanfte Weise ein etwas jüngerer Mann, Reb Daniel, zu dem selben Richter gerufen. Er und Reb Jakow waren Nachbarn und einige Jahre sogar Geschäftspartner gewesen. Reb Daniel steht nicht so selbstsicher vor dem Gericht. Meist hat er das Morgengebet verschlafen, auf Reisen hat er nicht immer koscher gegessen, und nach einem dummen Streit hat er sich von seiner tüchtigen Sara-Lea scheiden lassen.

Als nun der Oberste Richter aus einem Buch Reb Daniels Verdienste vorliest, werden dessen Augen groß, und bald kommt er aus dem Staunen nicht mehr heraus. »Das habe ich doch alles gar nicht gemacht! Wir hatten nie Gäste am Schabbes. Für diese Jeschiwa habe ich nie gespendet. Niemals habe ich richtig gefastet und schon gar nicht jeden Tag Psalmen gesungen!«

Der Richter lässt Reb Daniel in das Buch hineinschauen. »Da, sieh, es steht alles drin! Und ja, das sind alles nicht deine guten Taten. Denn jedes Mal, wenn Reb Jakow über dich Laschon Hara gesprochen hat, flatterten seine guten Taten, seine Psalmen und seine Gebete in dein Buch. Und nicht nur das. Deine Awerot, deine Sünden, fanden zugleich ihren Weg in sein Buch.«

Unser Wochenabschnitt weist uns darauf hin, extrem vorsichtig mit dem zu sein, was wir über andere Menschen sagen. Damit wir weder mit Tsora’at bestraft werden, noch innerlich verfaulen. Damit unsere Verdienste nicht anderen Menschen zugeschrieben und ihre Verfehlungen als unsere gelten. Möge nach 120 Jahren mehr Gutes als Schlechtes in unserem Lebensbuch stehen!

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Duisburg-Mülheim-Oberhausen.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Tasria lehrt die Gesetze für die Wöchnerin und die Dauer der Unreinheit. Für ein männliches Kind wird zudem festgelegt, dass es am achten Tag nach der Geburt beschnitten werden soll. Außerdem übermittelt Tasria Regeln für Aussatz (Tsora’at) an Körper und Kleidung. Es wird detailliert geschildert, wie dieser Aussatz festgestellt werden kann und wie dagegen vorzugehen ist.
3. Buch Mose 12,1 – 13,59

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