In unserem Wochenabschnitt steht ein bedeutendes Chok, ein für uns Menschen unergründliches Gesetz: »Du sollst nicht Schatnes anziehen, Kleidung, in der Wolle und Leinen zusammen sind« (5. Buch Mose 22,11). Es ist verboten, Kleidungsstücke aus Mischgewebe zu tragen.
Der amerikanische Rabbiner Joseph Ber Soloveitchik (1903–1993) erklärt, dass ein Chok, im Gegensatz zu den anderen Geboten, zwei einzigartige Charakteristika hat: Zum einen ist ein Chok völlig unabhängig von situationsbedingten Faktoren. Das heißt, Ideologien, Philosophien, praktische oder wirtschaftliche Überlegungen haben keinerlei Auswirkungen auf das Bestehen und Ausführen eines Chok-Gesetzes.
Zum anderen beinhaltet die Ausführung des Chok eine vollständige Abkehr vom Rationalismus. Per definitionem ist ein Chok nicht kognitiv zu erfassen und zu ergründen. Es ist ähnlich wie die Liebe der Eltern zu ihren Kindern, die instinktiv und absolut ist und nichts mit dem Verstand zu tun hat. Gerade deshalb, weil sich ein Chok oberhalb der Sphäre der Vernunft befindet, kann es nicht mithilfe unseres Verstandes beeinflusst werden und bleibt demzufolge unabänderlich.
naturgesetz Das wohl bekannteste Beispiel eines Chok-Gesetzes findet sich im Wochenabschnitt Chukat, in dem über die Rote Kuh berichtet wird. Alle damit verbundenen Rituale, bei denen die Asche der Roten Kuh benutzt wird, um sich spirituell zu reinigen, sind dermaßen unverständlich, dass sogar der weiseste aller Menschen, König Salomon, erklärte, er würde dieses Gebot nicht verstehen.
Rabbiner Soloveitchik betont im Zusammenhang mit der Roten Kuh, dass es bei einem Chok nicht um die Frage des »Warum« gehen kann. Als Analogie legt er dar, wie absurd es wäre, zu fragen, warum Wasser erst bei 100 Grad Celsius zu kochen beginnt. Es ist ein Naturgesetz, und die Frage nach dem Warum ergibt in diesem Zusammenhang keinen Sinn.
Auch die Frage, was Gott dazu motiviert hat, diese Gebote zu erlassen, ist unangemessen. Das Konzept der Motivation impliziert eine Unvollkommenheit, die das Ziel hat, eine Annäherung an den subjektiven idealen Zustand zu ermöglichen.
Im Talmud (Traktat Eruvin) streiten die Lehrhäuser von Hillel und Schammai, ob es gut war, dass der Mensch erschaffen wurde, oder ob es nicht besser gewesen wäre, er wäre gar nicht erschaffen worden. Nach zweieinhalb Jahren des Debattierens wurde abgestimmt, und man kam zu dem Schluss, es wäre in der Tat besser gewesen, der Mensch wäre nie erschaffen worden. Dies bedeutet in letzter Konsequenz, dass der Grund der Weltschöpfung, samt Leid, Geboten und tragischen Ereignissen, weder zu erfassen noch zu erklären ist.
Rabbiner Soloveitchik legt dar, welche Fragen im Zusammenhang mit den Chok-Gesetzen unzulässig sind. Aber welche Fragen sind zulässig?
Nach Rabbiner Soloveitchik ist es angemessen zu fragen, was mir dieses Gebot sagt – jedoch nicht auf kognitiver, sondern auf einer emotionalen oder geistigen Ebene. Was ist die spirituelle Botschaft an mich?
gefühle Gottesdienst ist nicht nur ein rein mechanischer Akt, die Erfüllung der Pflicht, sondern er beinhaltet emotionale Elemente wie Liebe und Freude. Diese innere Freude, diese personalisierte Botschaft auf der geistigen Ebene, ist bei der Ausführung der mechanischen Tat unabkömmlich, damit das Gebot auch als erfüllt gilt.
Vielleicht lässt sich dieser Ansatz weiterentwickeln. Der Zugang zum Herzen ist natürlich viel einfacher, wenn der Kopf »abgeschaltet« wird. Unergründliche Gebote fordern mehr dazu auf, sich auf eine emotionale Verbindung zu fokussieren. Die Ergründung der Botschaft, was das Gebot mir sagt, ist natürlich auch eine kognitive Tätigkeit, aber sie besitzt eine andere Qualität und Intensität, als wenn ein Gebot mit dem Verstand vollständig erfasst werden kann.
Chukim erinnern uns daran, dass auch die Gebote, die offiziell ergründbar sind, eine seelische Komponente benötigen. Sobald ein Gebot verständlich wird, besteht eine erhöhte Gefahr, dass das Erfüllen des Gebots nur auf das Mechanische reduziert wird und es zur reinen Pflichterfüllung verkommt. Natürlich verleiht eine Pflichterfüllung ein befreiendes Gefühl, aber dies wird dem Gebot nicht gerecht, da es seiner Vollständigkeit beraubt wird.
Dieser Grundsatz kann noch weiter verallgemeinert werden. Auf Fragen wie zum Beispiel, warum Gott die Welt erschaffen hat, warum es den Holocaust gab oder anhand welcher Kriterien Freude und Leid verteilt werden, gibt es keine wirklich zufriedenstellenden Antworten.
Vielleicht lässt sich die Lehre der Mikroebene – das einzelne Gebot – auf die Makroebene übertragen. Natürlich können wir versuchen, zu rationalisieren und zu verstehen, natürlich sollten wir auch hinterfragen, denn mehr Wissen und Verständnis führt teilweise zu höherem Engagement und zur Identifikation mit der Sache, aber gänzlich werden wir es nie richtig verstehen. Wir werden immer an unsere Grenzen stoßen.
Wir können nicht erklären, warum Gott die Welt und das Leben erschaffen hat. Wie wollen wir dann verstehen, warum ein Tsunami, ein Erdbeben oder ein Holocaust passiert? Wie wollen wir verstehen, dass unsere Verwandten erkrankt sind oder warum so viel Leid in der Welt zu finden ist? Wir können keinen Schachzug beurteilen, wenn wir die Figuren oder das Schachspiel als Ganzes nicht kennen.
orientierung Nachdem Gott seinen Segen oder auch seine Bestrafung offenbart hat, abhängig vom Verhalten des jüdischen Volkes, steht im 3. Buch Mose folgender Satz: »Dies sind die Gesetze (Chukim), Rechtsvorschriften (Mischpatim) und Lehren (Torot) zwischen dem Ewigen und den Kindern Israels, die Er auf dem Berg Sinai durch Mosche gegeben hat« (26,46).
Warum beginnt dieser Satz mit Chukim? Ist das nicht die Krönung des Gottesdienstes? Wäre es nicht sinnvoller, diese ultimative Form der Erfüllung von Geboten ans Ende der Liste zu setzen?
Nein, gerade nicht! Chukim sind keine vollendete Form von Geboten, sondern sie verleihen uns Orientierung und fungieren als Leuchtturm. Sie zeigen uns, was unser Zugang zu allen Geboten und dem Leben überhaupt sein soll.
Chukim lehren uns die Voraussetzung für alles. Wir sollen uns nicht in die Gefahr begeben, alles verstehen zu wollen. Das Leben und das Erfüllen der göttlichen Gebote brauchen den individuellen Zugang zum Geistigen, Emotionalen und Spirituellen. Das eigene Erleben von Freude und Liebe ist es, wozu uns die Chukim befähigen wollen. Sie sind das Tor zur Seele.
Der Autor hat an Jeschiwot in Jerusalem und in England studiert. Seit einigen Jahren arbeitet er als Psychologe in Osnabrück.
inhalt
Im Wochenabschnitt Ki Teze werden Verordnungen wiederholt, die Familie, Tiere und Besitz betreffen. Dann folgen Verordnungen zum Zusammenleben in einer Gesellschaft, wie etwa Gesetze zu verbotenen sexuellen Beziehungen, dem Verhalten gegenüber Nicht-Israeliten, Schwüren und der Ehescheidung. Es schließen sich Details zu Darlehen, dem korrekten Umgang mit Maßen und Gewichten sowie Sozialgesetze an.
5. Buch Mose 21,10 – 25,19