Schelach Lecha

Zu wenig G’ttvertrauen

Wer vorwärts kommen will, muss zuversichtlich sein. Foto: Getty Images

Einst kam ein Chassid zu seinem Rabbi und verkündete freudig, er habe das Studium der Tora beendet. Der Rabbi sagte: »Du hast die ganze Tora gelernt? Und was hat sie dich gelehrt?« Da merkte der Chassid, dass er nichts gelernt hatte. Denn es geht nicht darum, zu wissen, was in der Tora geschrieben steht, sondern darum, aus der Tora zu lernen, wie man leben soll.

Tora Sie ist keine Sammlung von Geschichten! Sie hat nur ein Ziel – sie spricht den Menschen an und ruft: »Lern eine Lek­tion! Frag dich immer: Was kann ich aus dem, was ich in der Tora lese, lernen?« Es gibt keinen anderen Zweck für unsere heilige Tora.

Unser Wochenabschnitt enthält Gesetze über die Opfergabe von Menachot sowie das Gebot, vom Teig der Challa einen Teil als Opfer für G’tt abzutrennen. Außerdem lesen wir: Wer gegen die Schabbatgesetze verstößt und Brennholz sammelt, wird mit dem Tod bestraft. Zudem gibt der Ewige das Gebot, an den Ecken viereckiger Kleidungsstücke Zizit anzubringen, um an die Mizwot der Tora zu erinnern.

Riesen In unserem Wochenabschnitt lesen wir, wie Mosche zwölf Kundschafter ins Land Kanaan schickt. Nach 40 Tagen kehren sie mit einer riesigen Weintraube, Granatäpfeln und Feigen zurück, um zu zeigen, wie voll und fruchtbar das Land ist. Doch nur zwei von ihnen, Kalev und Jehoschua, wollen das Land erobern, wie G’tt befohlen hat. Die anderen zehn behaupten, das Land werde von Riesen bewohnt, die das Volk Israel unmöglich besiegen kann. »Wir können nicht zu diesem Volk gehen, denn es ist stärker als wir« (4. Buch Mose 13,31).

Tatsächlich drückten sich die Kundschafter laut den Weisen des Talmuds (Sota 35a) noch drastischer aus. Denn die hebräischen Wörter »als wir« lassen sich auch mit »als er« übersetzen. Das heißt, in ihren Augen waren die kanaanitischen Völker sogar für G’tt zu stark. Die Weisen kritisieren diese kühne Annahme scharf. Und die Erklärung des Chassidismus lautet: Die Kundschafter hatten Angst, nicht körperlich, sondern geistig geschlagen zu werden.

Bedürfnisse In der Wüste hat G’tt dafür gesorgt, die Bedürfnisse eines jeden aus dem Volk zu befriedigen. Die Menschen mussten nicht arbeiten, um zu essen, sondern das Brot war das Manna, das vom Himmel fiel, und das Wasser kam aus Mirjams Quelle. Auch ihre Kleidung mussten die Israeliten nicht flicken.

Der Besitz des Landes Israel bedeutete für das Volk eine neue Ebene der Verantwortung. Ab jetzt gab es kein Manna mehr, sondern das Brot musste selbst erarbeitet werden. An die Stelle der g’ttlichen Wunder trat die Arbeit.

Die Kundschafter waren nicht irgendwer, sondern sie waren die Fürsten der Stämme Israels, die Mosche speziell für eine solche Mission ausgewählt hatte. Ihre Besorgnis war spirituelle Besorgnis: Sie befürchteten, dass die Notwendigkeit, das Land zu bearbeiten und sich den Lebensunterhalt selbst zu verdienen, dazu führen würde, dass das Volk Israel weniger Zeit und Energie hätte, G’tt zu dienen. Sie sagten: »Dies ist ein Land, das seine Bewohner zerstört.« Dem stand die Einsamkeit und Distanziertheit der geschützten Welt der Wüste gegenüber, in der sogar das Essen vom Himmel fiel.

Und doch lagen die Kundschafter falsch. Der Sinn, nach den Gesetzen der Tora zu leben, besteht nicht darin, die Seele zu erheben, sondern die Welt zu heiligen.

Die Gebote, die wir erfüllen, sind der Weg, G’tt im Natürlichen und nicht im Übernatürlichen zu finden. Die Wunder, die den Israeliten in der Wüste halfen, waren nicht der Höhepunkt der spirituellen Erfahrung, sondern nur eine Vorbereitung darauf, eines Tages diese Aufgabe zu erfüllen: nämlich das Land Israel in Besitz zu nehmen und es zu einem heiligen Land zu machen.

Feigheit Ich möchte mit einer Geschichte von zwei ehemaligen Soldaten schließen. Im Ersten Weltkrieg dienten viele Juden in der russischen Armee. Einige von ihnen erhielten, bevor sie nach Hause zurückkehrten, Orden, manche sogar das Georgskreuz.

Da sagte ein Veteran zum anderen: »Wir sind zusammen in den Krieg gezogen, und zusammen sind wir zurückgekehrt. Warum hast du einen Orden bekommen und ich nicht?« Da fragte der Ausgezeichnete: »Wie hast du gekämpft?« »Wie jeder«, antwortete der andere, »ich habe mich umgeschaut, gespäht und dann angegriffen.«

Da sagte der Ordensträger: »Als ich an die Front kam, erinnerte ich mich daran, dass mein Rabbi früher einmal von den Kundschaftern in Paraschat ›Schelach Le­cha‹ erzählt hatte: ›Vergeblich gingen sie zur Aufklärung und ruinierten mit ihrer Feigheit eine ganze Generation.‹ Also entschied ich mich und griff zuerst an und spähte erst dann.«

Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.

inhalt
Paraschat Schelach Lecha erzählt davon, wie Mosche mit G’ttes Erlaubnis zwölf Männer in das Land Kanaan sendet, um es auszukundschaften. Von jedem Stamm ist einer dabei. Zehn kehren mit einer erschreckenden Schilderung zurück: Man könne das Land niemals erobern, denn es werde von Riesen bewohnt. Lediglich Jehoschua bin Nun und Kalev ben Jefune beschreiben Kanaan positiv und erinnern daran, dass der Ewige den Israeliten helfen werde. Doch das Volk schenkt dem Bericht der Zehn mehr Glauben und ängstigt sich. Darüber wird G’tt zornig und will das Volk an Ort und Stelle auslöschen. Doch Mosche kann erwirken, dass G’ttes Strafe milder ausfällt.
4. Buch Mose 13,1 – 15,41

Konzil

»Eine besondere Beziehung«

»Nostra Aetate« sollte vor 60 Jahren die Fenster der katholischen Kirche weit öffnen – doch manche blieben im christlich-jüdischen Dialog verschlossen. Ein Rabbiner zieht Bilanz

von David Fox Sandmel  21.11.2025

Toldot

An Prüfungen wachsen

Warum unsere biblischen Ureltern Hungersnöte und andere Herausforderungen erleben mussten

von Vyacheslav Dobrovych  20.11.2025

Kalender

Der unbekannte Feiertag

Oft heißt es, im Monat Cheschwan gebe es keine religiösen Feste – das gilt aber nicht für die äthiopischen Juden. Sie feiern Sigd

von Mascha Malburg  20.11.2025

Talmudisches

Gift

Was unsere Weisen über die verborgenen Gefahren und Heilkräfte in unseren Speisen lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  20.11.2025

Jan Feldmann

Eine Revolution namens Schabbat

Wir alle brauchen einen Schabbat. Selbst dann, wenn wir nicht religiös sind

von Jan Feldmann  19.11.2025

Religion

Rabbiner: Macht keinen Unterschied, ob Ministerin Prien jüdisch ist

Karin Priens jüdische Wurzeln sind für Rabbiner Julian-Chaim Soussan nicht entscheidend. Warum er sich wünscht, dass Religionszugehörigkeit in der Politik bedeutungslos werden sollte

von Karin Wollschläger  19.11.2025

Sachsen-Anhalt

Judenfeindliche Skulptur in Calbe künstlerisch eingefriedet

Die Kunstinstallation überdeckt die Schmähfigur nicht komplett. Damit soll die Einfriedung auch symbolisch dafür stehen, die Geschichte und den immer wieder aufbrechenden Antisemitismus nicht zu leugnen

 19.11.2025

USA

6500 Rabbiner auf einem Foto

»Kinus Hashluchim«: Das jährliche Treffen der weltweiten Gesandten von Chabad Lubawitsch endete am Sonntag in New York

 17.11.2025

Talmudisches

Torastudium oder weltliche Arbeit?

Was unsere Weisen über das rechte Maß zwischen Geist und Alltag lehren

von Detlef David Kauschke  14.11.2025