In unserem Wochenabschnitt lesen wir davon, wie Gott einen Bund mit Awram schließt. Gott verspricht ihm, seinen Nachkommen das Land Israel als Erbbesitz zu geben. Daraufhin bittet Awram Gott um ein Zeichen. Der Ewige befiehlt ihm, eine Kuh zu nehmen, eine Ziege, einen Widder, eine Turteltaube sowie eine junge Taube. Er möge die Tiere, außer die Vögel, in der Mitte zerschneiden und jedes Stück dem anderen gegenüber legen. Awram tut dies und fällt in einen tiefen Schlaf. Eine Feuerflamme fährt zwischen den Stücken hindurch, und Gott verkündet ihm, dass seine Nachfahren zunächst 400 Jahre in einem fremden Land unterdrückt werden, doch danach werden sie nach Israel kommen und das Land erben.
Warum verhängte Gott über Awrahams Nachkommen eine 400 Jahre lange Zeit der Unterdrückung, und warum war das die Bedingung für das Erben des Landes?
Die Tora schweigt über die Gründe. Die Kommentatoren haben vielseitige Ideen vorgetragen. Eine davon ist, dass die Tora Ägypten nicht nur als Sklavenhaus beschreibt (2. Buch Mose 20,2), sondern auch als einen Eisenschmelzofen: »Euch aber nahm der Ewige und führte euch aus dem Eisenschmelzofen, aus Ägypten, ihm zu einem Eigentumsvolk zu werden, wie es heute ist« (5. Buch Mose 4,20).
läuterung Der Prophet Jeschajahu sagt: »Sieh, ich habe dich geläutert, aber nicht wie Silber, im Ofen des Elends habe ich dich geprüft« (48,10). Mit anderen Worten: So wie der Schmied zur Läuterung (Reinigung) des Metalls von der Schlacke einen Schmelzofen braucht, in dem die Schlacke getrennt und reines Metall gewonnen wird, so dienen die Qualen, die Awrams Nachkommen in Ägypten erleiden werden, der Funktion eines Schmelzofens. In diesem Schmelzofen sollen sie von ihren Sünden gereinigt und geläutert werden, bis am Ende die Geläuterten und Auserlesenen zu Gottes »Eigentumsvolk« werden.
So heißt es im Buch Daniel (11,35): »Und von den Verständigen werden manche zu Fall gebracht, damit eine Läuterung unter ihnen erwirkt wird und eine Sichtung und eine Reinigung bis zur Zeit des Endes, denn noch wird es dauern bis zur festgesetzten Zeit.« Die Unterdrückung in Ägypten war also eine Art Reinigung und Erziehung zu Demut und Gehorsam.
willensfreiheit Wenn Gott die Unterdrückung der Israeliten vorherbestimmt hat – warum wurden dann die Ägypter dafür bestraft? Laut Maimonides, dem Rambam (1135–1204), geht die Tora von der Willensfreiheit eines jeden Menschen aus. Keiner wird als Böser oder Gerechter geboren. Verneinten wir die Willensfreiheit, wären die Gesetze der Tora sinnlos. Ein Mörder könnte nicht bestraft werden, weil er dazu bestimmt war zu töten, und das Opfer wäre dazu bestimmt zu sterben. Es heißt aber: »Das Leben und den Tod habe ich dir vorgelegt, den Segen und den Fluch; erwähle nun das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen« (5. Buch Mose 30,19).
Mosche ruft das Volk auf, das Leben zu wählen. Also geht er davon aus, dass der Mensch eine Entscheidung frei und selbstständig treffen kann. Ob jemand ein Gesetz befolgt oder übertritt, ist weder von der Vorbestimmung noch vom Willen Gottes abhängig, sondern allein von der Entscheidung des Menschen.
Wie verstehen wir dann den Vers: »Du sollst wissen, dass deine Nachkommen Fremdlinge sein werden in einem Land, das nicht ihnen gehört. Sie werden ihnen dienen müssen, und man wird sie bedrücken, 400 Jahre lang. Aber auch das Volk, dem sie dienen werden, will ich richten, und danach sollen sie ausziehen mit großer Habe« (1. Buch Mose 15, 13–14)?
Unterdrückung Es scheint so, als ob Gott den Ägyptern keine freie Wahl lässt. Sie müssen die Israeliten unterdrücken. Wie kann Gott den Ägyptern die Willensfreiheit nehmen und sie dann dafür richten? Er selbst hat es doch so bestimmt. Der Rambam argumentiert: Gott hat bestimmt, dass die Israeliten von den Ägyptern unterdrückt werden sollen. Das war eine allgemeine Bestimmung, die sich auf das ägyptische Volk als Ganzes erstreckte. Aber jeder einzelne Ägypter hatte die freie Wahl, ob er die Israeliten unterdrückt oder nicht. Da sich die Ägypter selbstständig dazu entschieden haben, die Israeliten zu unterdrücken, hat Gott sie dafür gestraft.
Diese Antwort ist nicht zufriedenstellend. Wie ist das Verhältnis des Einzelnen zum Allgemeinen? Wenn jeder Ägypter wirklich hätte frei wählen können und sich gegen die Unterdrückung entschieden hätte, wer hätte dann die Bestimmung Gottes ausgeführt, die Israeliten zu unterdrücken?
Nachmanides, der Ramban (1194–1270), kritisiert den Rambam scharf: Folgt man dem Argument des Rambam, müsste jeder Ägypter, der sich an der Unterdrückung beteiligte, von Gott belohnt und nicht bestraft werden, weil er nur dem Gebot Gottes Folge leistete.
Darüber hinaus heißt es: »das Volk, dem sie dienen werden« – hier ist vom Volk als Ganzem die Rede. Rambams Argument kann also damit nicht richtig sein.
Wie aber erklärt der Ramban, warum die Ägypter bestraft wurden, obwohl Israels Unterdrückung vorherbestimmt war?
Seine Lösung lautet: Die Ägypter mussten die Israeliten unterdrücken, aber sie haben damit übertrieben. Die Ägypter warfen die neugeborenen Jungen in den Nil, damit gingen sie eindeutig über das »sie werden ihnen dienen müssen, und man wird sie bedrücken« hinaus.
Es scheint nur so, als ob Gott den Ägyptern keine freie Wahl gelassen hätte.
Die Ägypter haben die Israeliten nicht nur unterdrückt, sie wollten ihr Leben auslöschen. Gott strafte die Ägypter für ihre übermäßige Grausamkeit, die er nicht befohlen hatte. So sagt der Prophet Sacharja: »Ich (Gott) bin voll großen Zorns auf die sorglosen Nationen: Als ich nur wenig zornig war, haben sie dem Unheil nachgeholfen!« (1,15). Gott hatte »wenig Zorn«, aber die Ägypter haben »nachgeholfen«. Doch dazu hatten sie kein Recht.
Ähnlich sprach Jeschajahu zu den Babyloniern: »Ich war zornig auf mein Volk, entweihte meinen Erbbesitz und gab sie in deine Hand. Du hast kein Erbarmen mit ihnen gezeigt, dem Greis hast du dein schweres Joch aufgebürdet« (47,6).
Die Ägypter hatten keine freie Wahl. Sie mussten die Israeliten unterdrücken. Sie hatten aber die freie Wahl, das Maß der Unterdrückung selbst zu bestimmen. Sie haben grausam und schonungslos gegenüber den Israeliten gehandelt. Sie gingen über das verhängte Maß hinaus und wurden für ihre Böswilligkeit bestraft.
Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.
inhalt
Der Wochenabschnitt Lech Lecha erzählt, wie Awram und Sarai ihre Heimatstadt Charan verlassen und nach Kena’an ziehen. Awrams ägyptische Magd Hagar schenkt ihm einen Sohn, Jischmael. Der Ewige schließt mit Awram einen Bund und gibt ihm einen neuen Namen: Awraham. Als Zeichen für den Bund soll von nun an jedes männliche Neugeborene am achten Lebenstag beschnitten werden.
1. Buch Mose 12,1 – 17,27