Frau Rabbinerin, Sie haben zu Pessach eine egalitäre Haggada herausgegeben. Wie kam es zu dieser Idee?
Die Idee entspricht der Sederpraxis, die wir im Egalitären Minjan in der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main haben. Wir lesen jedes Jahr die Haggada, stellen aber stets eigene Fragen, die Pessach mit der Gegenwart verknüpfen. Das Gerüst ist natürlich dasselbe. Aber manche der traditionellen Passagen ergänzen wir mit modernen Passagen jüdischer Denkerinnen und Denker zu den Themen Freiheit, Aufbruch oder Emanzipation und diskutieren darüber.
In den USA oder Israel gibt es solche Haggadot schon lange. Warum erscheint in Deutschland erst jetzt eine?
Wir haben zwar seit den 90er-Jahren einen Aufbruch des liberalen Judentums. Im Zuge dessen sind Siddurim und Haggadot erschienen, in deren Übersetzungen ein modernes Menschenbild zum Ausdruck kommt, zum Beispiel die aus dem Englischen ins Deutsche übersetzte liberale Haggada von Michael Shire. Trotzdem gehen sie sprachlich nicht so weit, die volle Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen auszudrücken. Irgendwie herrschen die alten Hierarchien subtil weiter.
Was unterscheidet die von Ihnen herausgegebene Haggada von anderen?
Die Haggada versteht sich im hiesigen Kontext des jüdischen Lebens. In angelsächsischen Ländern ist dagegen ein affirmativer Ton typisch. Das hängt mit einer anderen Religiosität zusammen, die positiv, fast schwärmerisch ist. In Europa kennen wir mehr Ambivalenz. Unsere Beziehung zu Gott, falls wir sie noch haben, ist brüchig, und wir haben lauter kritische Fragen an unsere Tradition. Zugleich ist es eine partizipative Haggada. Viele Mitglieder des Egalitären Minjan haben Kommentare geschrieben und damit die Bedeutung des Seders nach ihrem Verständnis in die Gegenwart gebracht. So eine Haggada habe ich bislang noch nicht gesehen – weder in den USA noch in Israel. Sie ist ein lebendiges Zeugnis jüdischer Identität heute.
Traditionell spielen die vier Söhne beim Seder eine wichtige Rolle. Wird das jetzt paritätisch ausfallen?
In der Tat. Die vier Kinder sind bei uns gleichermaßen Mädchen und Jungen. Es ist grammatikalisch zweimal formuliert, weil es im Hebräischen nicht anders geht. Interessanterweise macht das aber einen Unterschied. Das »böse« Mädchen würden wir vielleicht gar nicht negativ bewerten, sondern als zu Recht »rebellisch«, den »klugen« Jungen haben wir in der Vergangenheit auch schon mal als »braven Streber« hinterfragt.
Bleibt der hebräische Text unverändert?
Die Zitate aus der Tora bleiben natürlich unverändert. Aber da, wo Gendern möglich ist, ohne der Tradition Gewalt anzutun, haben wir das getan. Wer die Geschichte des Siddurs und der Haggada kennt, weiß, dass zum Beispiel die Brachot, die Segensformeln, nicht von vornherein feststanden, sondern im Talmud kontrovers diskutiert wurden. Schon damals gab es Variationen. Das gibt uns heute viele Freiheiten. Ist »Melech ha-Olam« nur als »König der Welt« übersetzbar? Wir bieten Alternativen an wie »souveräne Macht« im Universum. Auch »Schöpferkraft« finde ich passend oder die »Macht in Zeit und Raum«. Die Haggada ist so gestaltet, dass man ganz beim Gewohnten bleiben kann, aber wer möchte, erhält Variationsmöglichkeiten.
An einer Stelle heißt es, dass man kein Heldenepos mit einem einzelnen männlichen Helden haben wollte, dafür aber den Zusammenhang zwischen Befreiung und aktiven Frauen betonen möchte. Wie sieht dieser aus?
Moses kommt in der Haggada traditionell nicht vor. Das war auch schon ein egalitärer Gedanke bei den Rabbinen. Sie wollten keinen Heldenkult. Andererseits ist das Phänomen herrschend, dass im Rückblick meist nur an die Männer erinnert wird. Pessach gemahnt uns, die Leistung der vielen Frauen in der Exodus-Geschichte nicht zu übergehen. Zu Moses und Aaron gehört eben auch ihre Schwester Mirjam. Ohne sie hätte es keinen Auszug gegeben. Deshalb wird sie als Heldin in der Egalitären Haggada genannt.
Was hat es mit Mirjams Brunnen auf sich?
Er soll die Israeliten in der Wüste begleitet und mit Wasser versorgt haben. Hierzu gibt es einen Midrasch, der in der Egalitären Haggada genannt wird. Dem Brunnen wird mit einem »Koss Mirjam«, einem Glas für das rettende Wasser, gedacht, analog zum »Koss Elijahu«, dem zusätzlichen Glas Wein für Elijahu.
Aspekte der Gegenwart wie queeres Judentum oder Öko-Chametz wurden ebenfalls aufgegriffen. Besteht nicht die Gefahr, dass eine Haggada schnell veraltet, weil andere Themen Konjunktur haben?
Die Gefahr besteht. Aber das sollte uns nicht abhalten. Wir sind übrigens nicht die Ersten, die Aspekte der Gegenwart in die Haggada-Kommentare einbeziehen. In Israel sind viele mit Kibbuz-Haggadot aufgewachsen, die landwirtschaftliche Aspekte hervorheben. Mag sein, dass sie heute veraltet erscheinen, aber sie zeigen Pessach im zionistischen Kontext und sind eine hochinteressante, übrigens auch ökologische Inspiration für heute. Im 16. Jahrhundert hat Don Isaak Abrabanel einen Haggada-Kommentar geschrieben, der vor dem Hintergrund der Vertreibung der spanischen Juden und Jüdinnen zu lesen ist, aber auch heute immer noch wichtig ist. Die Orange auf dem Sederteller, das Symbol für Pluralismus und Diversität, seit Susannah Heschel sie in den 80er-Jahren eingeführt hat, hat sich gehalten und gehört zu vielen liberalen Sedarim.
Die Fragen an die Rabbinerin des Egalitären Minjans der Jüdischen Gemeinde Frankfurt stellte Ralf Balke.