Wenn wir beten, versuchen wir grundsätzlich, es in einem Minjan zu tun, einem Quorum von zehn jüdischen Männern. Wir betrachten es als absolute Pflicht, einen Minjan zu bilden. Warum? Zu davenen (beten) ist im Grunde eine Privatsache. Es geht um unsere individuelle Beziehung zum Höchsten Wesen.
Und trotzdem versuchen wir, gemeinsam vorzugehen, weil das Gruppenereignis dabei eine intensivierende Kraft verleiht. Etwas zusammen zu tun, gibt einen enormen Schub, verleiht unseren Gebeten enorme zusätzliche Kraft.
ZWECK Das Gebet ist eine intensive persönliche Erfahrung. Dennoch stellt der Talmud (Berachot 7b) fest, dass »Gebete, die in einer Gruppe gesprochen werden, immer positiv aufgenommen werden und dem Zweck dienen« und viel mächtiger sind als die Gebete Einzelner.
Gerade in dieser Zeit der Corona-Pandemie, sozialer Distanzierung und der »Zwei-Meter-Distanz-Gesellschaft« ist die Frage nach der Beziehung zwischen Gemeinschaft und Individuum höchst aktuell. In fast ganz Europa waren die Synagogen in den vergangenen Wochen geschlossen. Jeder wurde auf seine eigene Gebetskraft zurückgeworfen. Einige Gebete sollten jedoch nur im Minjan gesprochen werden.
Kaddisch zu sagen, war zum Beispiel oft unmöglich, weil wir dafür einen Minjan brauchen. Mein ältester Schwager ist vor einem Monat gestorben. Seine zwölf Kinder aus Israel und Amerika wollten irgendwo Kaddisch sagen. Aber wie bekommt man einen Minjan zusammen, wenn es verboten ist, sich zu versammeln? Ist es erlaubt, stattdessen auf der Online-Plattform »Zoom« einen Minjan zu bilden?
Nein, sagen die jüdischen Vorschriften. Weil Zoom nur einen künstlichen Minjan zulässt, das Judentum aber ein Quorum von zehn realen Juden erfordert, nicht von virtuellen Menschen. Für viele war das eine schockierende Erfahrung in unserer Zeit der sozialen Medien. Denn viele Menschen haben nur über diese Medien Kontakt miteinander. Aber das ist laut Judentum kein wirklicher Kontakt.
Es gibt keinen virtuellen Minjan. Nötig ist ein Quorum von zehn realen Juden.
Wir gehen davon aus, dass in Gegenwart eines Minjans G’ttes Schechina – Seine Präsenz in dieser Welt – auch bei uns anwesend ist. G’tt ist überall präsent, aber nicht überall gleichermaßen. G’ttes Schechina muss akzentuiert werden. Und das passiert nur, wenn es zehn gibt, die das Abbild G’ttes tragen. Ohne diese gibt es keine Keduscha – keine Heiligkeit im Sinne von G’ttes intensiver und greifbarer Gegenwart.
Das Kaddisch ist ein äußerst heiliges Gebet und kann nur in einer Atmosphäre und Umgebung intensiver Keduscha gesprochen werden. G’ttes Präsenz beruht nicht auf Maschinen und Internetbeziehungen. Seine Allgegenwart wird nur von zehn echten Menschen hier auf der Erde verwirklicht. Jeder Mensch trägt G’ttes Bild durch seine Neschama, seine Seele, diesen Funken der G’ttlichkeit in jedem Individuum. Zehn Juden an einem Ort schaffen eine solche intensive Heiligkeit. Deshalb brauchen wir einen Minjan beim Kaddisch-Gebet.
ZOOM Durch das Zoomen fühlen wir uns verbunden. Das ist schön und eine der Segnungen der modernen Technologie, die uns übrigens auch von G’tt gegeben wurde. Wir sehen uns, und es ist so, als ob wir miteinander kommunizieren. Auch emotional können wir das so erfahren.
Trotzdem ist es nur virtuell. Daher erfordert die Halacha, dass wir real zusammen sind und nicht nur durch elektrische Impulse und übertragene Bilder. Um der Welt eine erhabene Realität anzunehmen, muss das Judentum real bleiben und erfahrbar durch die Wirklichkeit unserer menschlichen Sinne.
Wie bilden wir einen Minjan? Hierzu gibt es zwei Ansichten. Der Gaon von Wilna (18. Jahrhundert) glaubte, dass wir nur dann einen Minjan haben, wenn wir alle zusammen in einem Raum sind. Rabbi Chiskia da Silva aus Amsterdam (ebenfalls 18. Jahrhundert) meinte jedoch, dass wir auch einen Minjan bilden können, wenn wir nur Augenkontakt miteinander haben. Viele Poskim, entscheidende Gelehrte, stimmen Rabbi Chiskia da Silva zu. Und das ist heute ein wichtiger Schluss während dieser miserablen Corona-Krise: Wir können sozial Abstand halten und trotzdem einen Minjan bilden.
KADDISCH So geschieht es in großen jüdischen Zentren: Wenn sich an zwei gegenüberliegenden Wolkenkratzern viele Balkone befinden, wird ein Minjan gebildet, indem alle sichtbaren Nachbarn zusammengezählt werden. Weltweit war dies nun eine Lösung für alle, die im Minjan beten wollten. So könnte man zu jeder Tages- und Nachtzeit zusammen Kaddisch sagen.
Natürlich tauchten in dieser etwas surrealistischen Minjan-Realität neue Fragen auf. Müssen sich auch alle Verantwortlichen sehen – also müssen alle zehn Männer mindestens neun andere sehen können, –oder reicht es aus, dass sich nur ein Teil von zehn Personen sehen kann, weil ich den Nachbarn normalerweise nicht unter und über meinem Balkon sehen kann?
Die Leute auf der anderen Seite sind normalerweise sichtbar. Aber wenn es nur fünf oder sechs sind, kann ich die unsichtbaren Personen – oben und unten – auf meiner Seite mitzählen und habe einen Minjan? Rabbi Oscher Weis aus Bnei Brak ist dieser Ansicht.
In Hochhäusern bilden zehn Beter auf gegenüberliegenden Balkonen einen Minjan.
Aber kann ich auch aus der Tora lesen, wenn sich die meisten Leute, die ich zur Tora aufrufen möchte, nicht auf meinem Balkon befinden? Hier gibt es zwei praktische Probleme. Wenn man eine Bracha, einen Segensspruch, über die Tora sagen möchte, muss man den Text sehen. Da man dabei zwei Meter vom Leser (Ba’al Kore) entfernt sein muss, funktioniert das nicht sehr gut. Doch Rabbi Weis fand auch für dieses Problem eine Lösung. Die Aschkenasim rufen auch einen Blinden zur Tora auf − denn was zählt, ist, dass die gerufene Person dem Ba’al Kore zuhört.
BALKON Aber kann ich tatsächlich irgendwo auf dem Balkon links unten auf der anderen Seite des Hauses aufgerufen werden? Aufgerufen zu werden, bedeutet »zur Tora aufsteigen«. Das funktioniert meiner Ansicht nach für die Bewohner anderer Balkone nicht sehr gut.
Mischna Glücklicherweise gibt es andere Lösungen für diejenigen, die wegen eines Todesfalls Kaddisch sagen müssen. Man kann den Verstorbenen auch auf andere Weise ehren: Man kann Stücke aus der Mischna lernen. Denn das Wort Mischna hat dieselben Buchstaben wie Neschama, die Seele des Verstorbenen. Man kann das versäumte Beerdigungskaddisch dadurch nicht »wettmachen«, wenn es keinen Minjan gab. Aber das Lernen der Mischna und Wohltätigkeit, Zedaka, gleichen diesen Mangel wieder aus.
Man kann Kaddisch übrigens auch von jemand anderem sagen lassen. Ich selbst habe jemanden in Israel angeheuert, um Kaddisch für Trauernde zu sagen. Die Neschama des Verstorbenen muss also trotz der Corona-Krise nicht unter seelischer Kälte leiden. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen allen sagen: Bleiben Sie gesund!
Der Autor ist Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, Dajan beim Europäischen Beit Din und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).