Unser Wochenabschnitt beginnt mit den Worten: »Und der Ewige sprach zu Awram: Zieh weg (Lech Lecha) aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft, aus dem Haus deines Vaters, in das Land, das Ich dir zeigen werde« (1. Buch Mose 12,1).
Es ist wichtig, die Bedeutung dieser Aufforderung an Awraham zu verstehen. Wäre es lediglich darum gegangen, das Land zu verlassen, dann hätte Haschem es nicht für notwendig erachtet, dem »Lech« (geh, zieh weg) noch das »Lecha« (zu dir, für dich) hinzuzufügen. Awraham wird quasi mitgeteilt, dass er »zu sich selbst gehen« soll – also losziehen, um sich selbst zu finden.
Der Ewige vermittelt Awraham: Das Land, in dem du geboren und aufgewachsen bist, das bist nicht du. Zieh los! Alles, was mit dir verwandt ist, selbst das Haus deines Vaters, ist nicht dein Wesen. Zieh los und finde zu dir selbst, zu deinem wahren Ich.
Solange Awraham im Haus seines Vaters wohnt, zusammen mit seiner Familie und in seiner gewohnten Umgebung, kann er sein wahres Ich nicht erkennen. Erst nach seinem Weggang in ein anderes Land wird der Ewige Seinem Auserwählten dessen höheres Selbst zeigen.
Astrologe Für Awraham ist es notwendig, das Vertraute loszulassen, das Land der Astrologen zu verlassen und irgendwohin zu gehen, wo er sich selbst finden kann. Dies ist ein einschneidender Neustart für Awraham, aber auch für die Weltgeschichte und die Menschheit, denn der Ewige sagt zu Awraham: »Ich will dich zu einem großen Volk machen, und Ich will dich segnen. Und Ich werde deinen Namen groß machen. Und du selbst sollst ein Segen sein« (12,2).
Awraham ist der Stammvater. Aus ihm entstand im Laufe von Generationen letztlich ein großes Volk. Sein Samen ist der Ursprung des jüdischen Volkes, und der Ewige, Haschem, wird dieses Volk auf seinem weiteren Weg führen.
Dafür muss Awraham jedoch mit seinen Ursprüngen brechen, um danach selbst die Wurzel eines Volkes zu werden. Dann wird Awraham den Segen des Ewigen erhalten, die Antriebskraft auf seinem neuen Weg. Zwar büßt Awraham den Schutz seines Elternhauses ein, aber er wird nicht wehrlos. Denn sein Name, den Haschem groß machen wird, ist von jetzt an sein Schutz.
Awraham verliert also sein Land, seinen Stamm und sein Zuhause, aber er erhält im Gegenzug einen Segen, einen neuen Namen und Größe. Von jetzt an muss Awraham ein Segen für die Menschen sein. Dies ist der geheimnisvolle Moment des Tuns, wenn der Segen (Bracha) von der Person abzuhängen beginnt.
In Verbindung damit spricht der nächste Vers von der Beziehung zwischen Awraham und den Menschen um ihn herum: »Und Ich werde segnen, die dich segnen, und wer dich verflucht, den werde Ich verfluchen. Alle Völker der Erde werden durch dich gesegnet werden« (12,3).
Haschem wünscht sich, alle zu segnen, die bereit sind, Awraham zu segnen. Aus diesem Grund wird über »diejenigen, die dich segnen«, im Plural gesprochen und über »denjenigen, der dich verflucht«, im Singular.
Fluch Ein Fluch bedeutet die Trennung von der geistigen Quelle des Lebens. Der Ewige entzieht sie jedem, der Awraham zerstören will. Ein solcher Schutz ist für Awraham notwendig, damit alle Völker der Erde in der Zukunft »durch ihn« gesegnet werden.
»Da zog Awram weg, wie der Herr ihm gesagt hatte. Und Awram war 75 Jahre alt, als er Charan verließ« (12,4). Er ging, weil er den Befehl erhielt, und nicht, weil er von dem großen Volk erfahren hatte, das von ihm abstammen wird. Sein Leben beginnt jetzt neu und ist nur auf die Zukunft ausgerichtet. Awraham hat zehn Prüfungen zu bestehen. Die erste Prüfung war der Abschied aus Charan und das Brechen mit der Vergangenheit auf Befehl G’ttes.
Die Tora ist keine schöngeistige Literatur. Eine epische Intonation ist ihr fremd, auch wenn viele sie fälschlicherweise in ihr und in ihren Übersetzungen zu hören glauben. In der Tora gibt es stellenweise sehr wenige Details. Die wichtigsten Bedeutungsnuancen werden oft durch die Reihenfolge der Wörter, durch Aufzählung oder Hinzufügung von einigen der Aufzählungskomponenten ausgedrückt.
Wenn also G’tt zu Awraham sagt: »Lech Lecha« – geh zu dir selbst und geh allein –, aber Awraham trotzdem jemanden mitnimmt, dann wird uns hier zweifellos etwas Fundamentales berichtet.
»Und Awram nahm Sarai mit, seine Frau, und Lot, seinen Neffen, und all ihr Eigentum und die Seelen, die sie in Charan erworben hatten« (12,5). Awraham erhielt einen Befehl von Haschem, doch musste er selbst herausfinden, wie er den Befehl ausführen sollte.
Die Erfüllung des g’ttlichen Willens ist also nicht blind, gedankenlos und mechanisch, sondern es ist eine ganzheitliche Lebensaufgabe. Awraham wird gesagt, dass aus ihm eine große Nation entstehen wird – und er nimmt seine Frau mit. Er wird in einem fremden Land leben – und er nimmt sein Eigentum mit. Lot will ihn begleiten, seine Nöte mit ihm teilen – und Awraham nimmt ihn mit.
Kena’an »Und sie zogen aus, um in das Land Kena’an zu reisen, und sie kamen auch wirklich in dem Land Kena’an an« (12,5). G’tt sagte Awraham nicht direkt, wohin er gehen sollte. Awraham geht los, und als er an einem bestimmten Ort ankommt, wartet er auf ein Zeichen, das ihm zeigt, ob dies der richtige Ort ist und wie es weitergeht. »Und Awram zog durch das Land bis in die Gegend von Sichem bis an den Hain More. Die Kena’aniter waren damals noch im Land« (12,6).
Was Awraham in diesem Moment tut, ist, Zeichen zu setzen, Punkte in Zeit und Raum, die in der Zukunft des jüdischen Volkes wichtige Orte sind, an denen einschneidende Ereignisse stattfinden werden: Sichem ist der Ort, an dem Dina entführt und geschändet wird, wo Levi und Schimon kämpfen werden. Es ist der Ort, wo Josef in die Sklaverei verkauft werden wird – all dies und vieles mehr wird eines Tages an diesem Ort geschehen.
Im Laufe der Geschichte des jüdischen Volkes wird Sichem einer der gefährlichsten Orte in Israel sein. Für Awraham jedoch, der dort seinen ersten Halt macht, ist es der Ort, an dem er sein bisheriges Leben für immer hinter sich lässt und ein neuer, besserer Abschnitt beginnt.
Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.
Paraschat lech lecha
Der Wochenabschnitt erzählt, wie Awram und Sarai ihre Heimatstadt Charan verlassen und nach Kena’an ziehen. Awrams ägyptische Magd Hagar schenkt ihm einen Sohn, Jischmael. Der Ewige schließt mit Awram einen Bund und gibt ihm einen neuen Namen: Awraham. Als Zeichen für den Bund soll von nun an jedes männliche Neugeborene am achten Lebenstag beschnitten werden.
1. Buch Mose 12,1 – 17,27