Naturkatastrophen

Zerstörte Ordnung

Die Arche strandet am Ararat, Bild aus dem Film »Noah« Foto: ILM; Courtesy of Paramount Pictures

Die Geschichte der Flut ist eine der bekanntesten biblischen Geschichten überhaupt und hat kürzlich durch die Verfilmung mit Russell Crowe nochmals an Popularität gewonnen. Aus moderner Perspektive erscheint sie allerdings problematisch, wird doch die Flut – eine Naturkatastrophe – als G’ttes Strafe für die Missachtung der Mizwot und den schlechten Charakter des Menschen dargestellt.

In der Tora heißt es: »Damals ward die Erde verderbt vor G’tt und ward voller Gewalttätigkeit« (1. Buch Mose 6,11). Heutzutage glauben allerdings die wenigsten daran, dass G’tt tatsächlich diejenigen belohnt, die die Mizwot halten, und diejenigen bestraft, die sie nicht halten. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob der Tanach tatsächlich einer solchen Logik folgt, wie zum Beispiel in der Geschichte von Hiob.

Vielleicht müssen wir die Flutgeschichte eher als Metapher für die Auswirkungen menschlicher Bosheit und Machtstrebens verstehen, schließlich erfahren wir jeden Tag selbst die Konsequenzen, die schlechtes menschliches Handeln auf unsere Gesellschaft und unsere Umwelt haben können.

Harmonie G’tt schuf die Welt in vollkommener Harmonie. Es gab nichts Schlechtes in dieser Welt, nur Gutes. Nach jedem Tag der Schöpfung heißt es: »Wajar Elokim Ki-Tov.« – »Und G’tt sah, dass es gut war.« Aber wir Menschen wollten nicht in dieser guten, perfekten Welt leben. Wir wollten Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit. Doch dieses Recht auf den freien Willen, den uns G’tt geschenkt hat, hat auch einen großen Nachteil: Wir können uns falsch entscheiden, für das Schlechte.

Damit sind wir es, die das Schlechte in diese Welt bringen. Und genau das passierte in der Generation von Noach. Die Menschen füllten die Erde mit Unrecht – bildlich gesprochen (1. Buch Mose 6,11). G’tt machte uns zur Krone der Schöpfung und übertrug uns die Herrschaft über Seine Schöpfung (1, 28–29). Doch diese Privilegien waren an Verantwortung geknüpft. Wir sollen – wie es in der Tora steht – die Welt »bearbeiten und hüten« (2,15), nach G’ttes Wünschen, nicht unseren.

Was aber passierte, nachdem G’tt uns als Partner für die Vollendung Seiner Schöpfung erwählte? Wir zerstörten die Harmonie und das Gleichgewicht unserer Welt, weil wir nicht in der Lage waren – oder: es nicht sind –, mit dieser Verantwortung umzugehen. Das Ergebnis ist Chamas (Unrecht, Gewalttätigkeit – damit ist nicht die palästinensische Terrororganisation gemeint, auch wenn das gut passen würde).

Es geht hier um ein Unrecht, das leise und subtil daherkommt, wie Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) so exzellent in seinem Kommentar erklärt: »Ein solches Unrecht, das nicht durch ein menschliches Gericht gefasst werden kann, das aber fort und fort geübt, nach und nach den Nächsten begräbt … verwandt (linguistisch) mit Chomez, Essig, diejenige Verderbnis, die nicht auf einmal geschieht; nur nach und nach geht der Wein in Essig über … Mit offenbarem Raub wird sich nie die Gesellschaft füllen, dagegen weiß sie sich durch Kerker und Strafgewalt zu schützen. Allein an Chamas, an der mit Schlauheit gepaarten Unrechtfertigkeit geht sie zugrunde, wogegen … nur die vor G’tt sich selber richtende Gewissenhaftigkeit zu schützen vermag.«

Die Menschen begingen also keine großen Verbrechen, wie sie von einem Gericht hätten geahndet werden können – sie stahlen nicht oder mordeten nicht. Oberflächlich schien die Gesellschaft gesund und erfolgreich. Aber sie begingen anderes Unrecht, viele Kleinigkeiten. Sie waren korrupt, sie dachten nur an sich und ihren Vorteil, sie kümmerten sich nicht um die anderen Menschen, es herrschte Missgunst und Neid. Es gab kein Bewusstsein für Solidarität, kein Verantwortungsgefühl. Und es ist eben genau diese Gewissen- und Skrupellosigkeit, die zum Untergang einer Gesellschaft führt.

Rache Interessanterweise erklärt Raschi (1040–1105) in seinem Kommentar zum 1. Buch Mose 1,26 (basierend auf dem Midrasch Bereschit Rabba 8,12), dass das hebräische Wort Jirdu, das in dem Vers üblicherweise mit »herrschen« übersetzt wird, noch eine weitere Bedeutung hat: »unterwerfen/scheitern«. Wenn der Mensch es sich verdient, wird er über die Welt und die Tiere herrschen. Wenn er es sich aber nicht verdient, unterwirft er sich ihnen, und die Welt und das Tier herrschen über ihn. Im modernen Kontext ausgedrückt: Wenn wir die Welt zu sehr ausbeuten und belasten, wird sie sich dafür an uns »rächen«.

Seit Noachs Zeiten hat sich eigentlich nicht viel verändert. Wir leben in Gesellschaften, in denen zunehmend keine Solidarität mehr herrscht, in denen man sich vor allem um sich selbst kümmert, nicht um den anderen. Vielen Unternehmen geht es um Profitmaximierung und nicht um Verantwortung für ihre Mitarbeiter oder die Allgemeinheit, und Banken stürzen uns mit ihren Spekulationen in Finanzkrisen. Reiche werden immer reicher und Arme immer ärmer.

Durch unseren Wunsch (oder vielleicht unsere Gier?) nach immer mehr und mehr beuten wir die Umwelt schamlos aus und bedrohen damit die Grundlage der kommenden Generationen. Vielleicht gibt es keine Flut wie in der Bibel, aber es gibt weltweit sehr wohl Flutkatastrophen und andere Umweltschäden, die auf den von uns verursachten Klimawandel zurückzuführen sind. Obwohl wir wissen, dass unser gegenwärtiges Handeln falsch ist, tun wir nichts dagegen. Und obwohl wir wissen, dass es Unrecht ist, gibt es kein Gesetz, das genau diese Dinge verbieten würde. Und die Gesellschaft schaut einfach weg.

bund G’tt zeigt eine klare Alternative zu diesem Szenario: Nach der Flut segnet G’tt Noach und dessen Familie, und Er schließt einen Bund mit ihnen. Er gibt die Noachidischen Gebote, grundlegende ethische und moralische Gesetze, die verhindern sollen, dass sich kommende Generationen so verhalten wie Noachs Zeitgenossen vor der Flut. Ethik, Moral und Werte treten an die Stelle von Gier, Egoismus und Neid – das ist das jüdische Gegenstück zu Chamas. Und das gilt nicht nur für Juden. Der Brit (Bund), den G’tt mit Noach schließt, gilt für die ganze Menschheit (1. Buch Mose 9, 8–17).

Das Ethische und Universale sind die beiden zentralen Themen dieser Geschichte. Sie sind immer noch genauso aktuell wie damals. Gerechte Gesellschaften zu schaffen, die ein faires und gutes Miteinander ermöglichen und ein Leben im Einklang mit der Umwelt – das sind die großen Herausforderungen der Menschheit, die wir nur global und gemeinsam lösen können. Sollten wir keine Antwort darauf finden, kann uns das tatsächlich zerstören, so wie die Flut Noachs Generation dahinraffte.

Der Autor ist Assistenzrabbiner der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich.

Paraschat Noach
Der Wochenabschnitt erzählt vom Beschluss des Ewigen, die Erde zu überfluten. Das Wasser soll alles Leben vernichten und nur Noach verschonen. Der soll eine Arche bauen, auf die er sich mit seiner Familie und einem Paar von jeder Tierart zurückziehen kann. So erwacht nach der Flut neues Leben. Der Ewige setzt einen Regenbogen in die Wolken als Symbol seines ersten Bundes mit den Menschen. Die beginnen, die Stadt Babel zu erbauen, und errichten einen Turm, der in den Himmel reicht. Doch der Ewige vereitelt ihren Plan.
1. Buch Mose 6,9 – 11,32

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