Der Tannait Hillel der Ältere – er lebte 100 Jahre vor der Zerstörung des Zweiten Tempels – bemerkte im Hinblick auf das vorgeschriebene Toralernen: »Sage nicht: Wenn ich mehr Zeit habe, dann werde ich lernen, denn vielleicht wirst du diese Zeit niemals haben« (Sprüche der Väter 2,5). Rabbiner Seckel Bamberger (1863–1934) kommentierte Hillels Satz mit folgenden Worten: »Man muss regelmäßig täglich eine Zeit dem Toralernen widmen und dies nicht von der jeweiligen Tätigkeit im Geschäft abhängig machen, ebenso wie man das Toralernen nicht dem sorgenfreien Alter vorbehalten darf, da der Mensch seine Lebensdauer nicht kennt und hierdurch die Hauptaufgabe des Lebens unerfüllt lassen könnte.«
Rabbiner Ovadia Yosef (1920–2013) hingegen entdeckte in Hillels Äußerung einen wichtigen Hinweis für die tägliche Praxis. Gibt es im Alltag einige ruhige Momente, sollten diese nicht vergeudet werden, indem man sich einredet, dass sich in dieser kurzen Zeitspanne nicht lernen ließe. Beispielsweise kann jemand, der an einer Haltestelle auf den Bus wartet, eine Mischna studieren oder einen Psalm rezitieren, statt einfach untätig herumzustehen.
Auf den Wert eines jeden Augenblicks hat Hillel auch in einer anderen Mischna aufmerksam gemacht: »Wenn nicht jetzt, wann denn?« (Sprüche der Väter 1,14). Diese bekannte rhetorische Frage, die sogar von US-Präsident John F. Kennedy zitiert wurde, ist schon oft und sehr unterschiedlich interpretiert worden. So war Maimonides, der Rambam (1135–1204), überzeugt, Hillel habe mit dem Wort »jetzt« die Jugendzeit gemeint. Seiner Ansicht nach lehrt Hillel in unserer Mischna, dass sich jeder junge Mensch intensiv darum bemühen sollte, gute Eigenschaften zu erwerben, um altruistischer zu werden. Denn mit zunehmendem Alter verfestige sich der Charakter und ist nicht mehr so leicht zu korrigieren.
Sowohl Rabbiner Bachja ben Ascher (1255–1340) als auch Rabbiner Ovadia aus Bartenura (1445–1515) kannten die Interpretation des Rambam. Dennoch entwickelten beide eine weitere Deutung des Begriffs »jetzt«. Hillel habe an unsere Welt im Gegensatz zur zukünftigen Welt gedacht, so ihr Ansatz. Nur in dieser Welt können wir segensreich wirken und Verdienste erwerben. Nach dem Tod ist uns diese Möglichkeit selbstverständlich nicht mehr gegeben.
Auf die Frage, wann man gute Vorhaben verwirklichen sollte, lautet die Antwort: im richtigen Augenblick.
Das führt zu der Frage, wann man gute Vorhaben verwirklichen sollte. Im richtigen Augenblick, lautet die Antwort. Wie der Judaist Avigdor Shinan erklärte, fordert Hillel keinesfalls undurchdachte, vorschnelle Handlungen. Gibt es jedoch keinen Grund für den Aufschub des Geplanten, dann ist die Zeit für die Ausführung des jeweiligen Projekts gekommen.
Hillels Ausspruch liegt also eine unausgesprochene Voraussetzung zugrunde, die Rabbiner Marcus Lehmann (1831–1890) näher ausführte: »Der Gottesdienst des Israeliten ist ein immerwährender, und die Zeit, die diesem ununterbrochenen Gottesdienst entzogen wird, ist unwiederbringlich verloren. Wer kann den unnütz oder schlecht verbrachten Augenblick zurückbringen? Daher frage dich stets: Wenn nicht jetzt, wann denn? Was du morgen tust, das kann nicht ersetzen, was du heute versäumt hast; denn der morgige Tag muss ja ohnehin der guten und nützlichen Tätigkeit geweiht sein.«
Wertvolle Zeit zu verschwenden, ist nicht nur unklug, sondern zugleich eine schwere Sünde. In der Gemara (Sanhedrin 99a) bezieht Rabbi Nehorai den Vers »Denn das Wort Gottes hat er verachtet« (4. Buch Mose 15,31) auf denjenigen, der in der Lage ist, sich mit der Tora zu befassen, stattdessen sich aber lieber mit nichtigen Dingen beschäftigt. Im Traktat Chagiga (5b) lesen wir, dass der Heilige, gepriesen sei Er, täglich über jeden weint, dem es möglich ist, sich mit der Tora zu befassen, dies jedoch unterlässt.
Auf die große Gefahr der Zeitverschwendung hat Hillel der Ältere bereits vor 2000 Jahren mehrmals eindringlich hingewiesen. Seine Mahnungen verdienen gerade in unserer Zeit viel Beachtung.