Die Zehn Gebote, die wir in unserem Wochenabschnitt sowie in Paraschat Waetchanan lesen, gehören zu den Grundpfeilern jüdisch-ethischen Handelns. Das Judentum steht und fällt mit dem Glauben an die geschichtliche Wahrheit der Offenbarung am Sinai. Josef Herman Hertz (1872–1946), der frühere Oberrabbiner Großbritanniens, sagte, der Dekalog habe im religiösen Denken der Menschheit außerhalb des Judentums eine außergewöhnlich große Bedeutung. Es spiegele sich in ihnen der zeitlose und universelle Charakter der g’ttlichen Botschaft wider, so Hertz.
ermahnung Der Unterschied zwischen den beiden Versionen besteht nun darin, dass es sich in 5. Buch Moses 5, 6-18 um eine Ermahnung an eine neue Generation handelt. Deshalb zögert der Gesetzgeber nicht, hier und da zu erweitern oder abzuändern. Für Rabbiner Hertz ist die Version im 5. Buch Moses im Vergleich zu der Version im 2. Buch Moses eher ein rhetorisches Stück.
In 5. Buch Moses 5,15 finden wir die wichtigste Abweichung zwischen den beiden Lesarten. Gemäß 2. Buch Moses 20,11 erinnert der Schabbat an die Vollendung der Schöpfung. An diesem Tag soll der Mensch die Sorgen des Alltags, die ihn während der sechs Arbeitstage völlig in Beschlag nehmen, vergessen.
Man soll darüber hinaus noch eine weitere Lehre aus der Einrichtung des Schabbat ziehen: In der ägyptischen Sklaverei arbeiteten die Israeliten ohne Ruhepause, Tag für Tag. Der wöchentliche Ruhetag würde ihnen den Unterschied ihrer Arbeit von der Sklavenarbeit klarmachen. Und sie sollten im verheißenen Land auf gar keinen Fall anderen etwas aufbürden, was ihnen selbst so bitter gewesen war.
Gewichtig Im Denken unseres Volkes nimmt die Frage nach Anzahl und Gewichtung der Gebote der Tora breiten Raum ein. Jedes einzelne Gebot hat Gewicht. Dennoch nehmen die Zehn Gebote im Gesamtkontext der 613 Mizwot eine besondere Stellung ein. Der Babylonische Talmud überliefert folgende Diskussion: »Rabbi Simlai führte aus: 613 Gebote wurden Mosche am Berg Sinai mitgeteilt, 365 Verbote, entsprechend den Tagen des Jahres, und 248 Gebote, entsprechend der Zahl der Glieder des menschlichen Körpers.«
Rabbi Hamnuna fragte: »Was sagt die Schrift darüber? – Eine Tora gab uns Mosche als Erbe (5. Buch Moses 33,4), und ›Tora‹ hat gemäß der Gematria den Zahlenwert 611. Nun fehlen ja zwei der 613 Gebote! Jedoch haben wir nur ›Ich bin der Ewige, dein G’tt‹ und ›Nicht sei dir ein anderer G’tt‹ aus dem Munde des Ewigen vernommen.« Die rabbinische Diskussion zeigt, dass nur die ersten beiden der Zehn Gebote am Berg Sinai direkt vernommen wurden, während alle weiteren 611 Gebote dem Volk durch Mosche vermittelt wurden.
Die Sprüche der Väter mahnen, jedes einzelne Gebot genau zu beachten: »Rabbi Jehuda ha Nassi sagte: ›Nimm es genau mit einem leichten wie mit einem strengen Gebot, denn du kennst ja nicht den spezifischen Lohn der Gebote.‹« Jedes einzelne Gebot hat Gewicht. Dennoch haben die Zehn Gebote im Gesamtkontext der 613 Gebote des Judentums eine besondere Stellung. Hierzu schreibt Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888): »Sie sind weder das ganze Gesetz, noch heiligere Gesetze als die übrigen. Wohl aber sind sie Grundzüge, allgemeine Kapitelüberschriften, zu denen die ganze übrige Gesetzgebung die eigentliche Ausführung bildet.«
fünfergruppen Immer wieder haben jüdische Interpreten die Zehn Gebote in zwei Fünfergruppen eingeteilt. Die eine bezieht sich auf das Verhältnis des Menschen zu G’tt, während die zweite die Beziehung des Menschen zu seinem Mitmenschen reflektiert. Das soll zum Ausdruck bringen, dass die eine Gruppe nicht die andere an Gewicht übersteigt. Die Missachtung der einen auf Kosten der anderen läuft dem Willen des Gesetzgebers zuwider.
Auf das Verhältnis Mensch – G’tt beziehen sich die Gebote: 1) Ich bin dein G’tt …; 2) Nicht sei dir andere G’ttheit …; 3) Trage nicht Seinen Namen auf das Wahnhafte …; 4) Gedenke des Schabbattages …; 5) Ehre deinen Vater und deine Mutter …
Die zweite Tafel regelt die Beziehung der Menschen untereinander: 6) Morde nicht; 7) Buhle nicht; 8) Stiehl nicht; 9) Sage nicht gegen deinen Genossen aus …; 10) Begehre nicht …
Warum gehört das fünfte Gebot auf die Tafel der Beziehung zu G’tt? Yehuda T. Radday (1913–2001) erklärt: »Es sind die Eltern, die das unmündige Kind beschützen und zur Beherzigung der Gebote eins bis vier erziehen.« Das zweite und dritte Gebot erinnern uns an die immer aktuelle Verantwortung des Menschen gegenüber seinem Schöpfer und seinen Mitmenschen.
Abwege »Du sollst dir kein G’ttesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde« (2. Buch Moses 20,4). Das zweite Gebot ruft uns in Erinnerung, dass G’tt ein geistiges Wesen ist, das in kein Bild fixiert werden kann. Es verbietet uns jede Form der Verehrung des einen G’ttes durch Bilder. Die bildliche Darstellung G’ttes bringt den Menschen auf spirituelle Abwege, sagt die jüdische Tradition.
G’tt ist ein Geheimnis, wie der unaussprechliche Name G’ttes belegt, der im ersten Gebot erwähnt wird. Das Bilderverbot, schreibt Rabbiner Marc Stern (1956–2005), »schützt in gewisser Weise das Geheimnis G’ttes vor dem frechen Zugriff des Menschenverstandes, der es verrechnen und auf Postkartengröße verkleinern will«. Man kann sich fragen, wie mit dem Bilderverbot die G’ttesebenbildlichkeit des Menschen vereinbar ist? Die jüdische Antwort lautet: Der Mensch ist dadurch Abbild G’ttes, dass ihm der Lebensatem eingehaucht wurde und in ihm hierdurch ein göttlicher Funke eingesenkt wurde. Er darf sich jedoch keinesfalls mit G’tt vergleichen, der ein absolutes Geheimnis ist.
Das zweite Gebot lässt uns auch die Macht der Bilder überdenken. Wir leben in einer Zeit der Medien, die eine nicht vorhandene Wirklichkeit vortäuschen. Wenn wir ein Ebenbild des befreienden G’ttes sind, brauchen wir uns keine Bilder mehr aufzwingen lassen. Die Konsequenzen der Vergottung der Bilder finden sich in den weiteren Ausführungen des zweiten Gebotes. Sie werden in den kommenden Generationen spürbar und erinnern zugleich an die individuelle Verantwortung des einzelnen Menschen für die Gesamtheit.
Diese Verantwortung kommt insbesondere im dritten Gebot zum Tragen, das uns verbietet, den Namen G’ttes zu missbrauchen. Die jüdische Tradition fordert, den Namen G’ttes heute überhaupt nicht zu verwenden. Die Gefahr besteht weniger darin, dass er in der säkularen Gesellschaft zum sprachlichen Fertigprodukt wird, sondern dass er im Wortsalat sprachlicher Fertigteile verschwindet und nur belangloses Gerede bleibt. Unsere Aufgabe ist es, die uns von G’tt gesetzten Grenzen zu respektieren und zugleich unsere, sich aus der Ebenbildlichkeit ergebende, Verantwortung im Alltag wahrzunehmen.
Der Autor ist Leiter des religiösen Erziehungswesens der IKG München.
Paraschat Jitro
Der Wochenabschnitt trägt den Namen von Mosches Schwiegervater. Außer dieser Parascha sind nur fünf Abschnitte nach den Namen von Menschen benannt: »Noach«, »Chaje Sara«, »Korach«, »Balak« und »Pinchas«. Die Tora stellt Jitro als einen sehr religiösen, gastfreundlichen und weisen Menschen dar. Er rät Mosche, Richter zu ernennen, um das Volk besser zu führen. Die Kinder Israels lagern am Sinai, drei Tage müssen sie sich vorbereiten. Im Anschluss daran senkt sich G’ttes Gegenwart über die Spitze des Berges, und Mosche steigt hinauf, um die Tora zu empfangen.
2. Buch Moses 18,1 – 20,23