Am Sonntagabend beginnt Sukkot. Sieben Tage lang sitzen wir in Hütten – wie unsere Vorfahren, die 40 Jahre lang durch die Wüste wanderten. Das Laubhüttenfest wird als »Sman simchatenu«, die Zeit unserer Freude, bezeichnet.
Sukkot ist auch das Fest der Unsicherheit. Es geht eben nicht um die sichere Behausung, in der wir diese eine Woche verbringen. Wir sind in einer Sukka, mit einem Dach, das nur mit Laub bedeckt ist, Wind und Wetter ausgesetzt. So wie in der biblischen Geschichte. Das Volk Israel war gerade erst aus der ägyptischen Sklaverei geflohen und ging einer unsicheren Zeit entgegen.
diaspora So ähnlich war es für Generationen danach in der Diaspora: »Juden wussten, wie es war, kein festes Zuhause zu haben, zu wissen, dass der Ort, an dem man lebte, nur eine vorübergehende Behausung war«, schrieb der ehemalige britische Oberrabbiner Jonathan Sacks sel. A. Er betonte, dass dies die Unsicherheit ist, die Jüdinnen und Juden immer wieder erfahren.
Es sei erstaunlich, so Sacks, wie Israelis es geschafft hätten, seit der Gründung des Staates mit der beinahe permanenten Bedrohung durch Krieg und Terror zu leben, ohne der Angst nachzugeben. Das heutige Israel sei eine lebendige Verkörperung dessen, was es bedeutet, sich in einem Zustand der Unsicherheit zu befinden und sich dennoch zu freuen.
Richten wir den Blick von Israel nach Deutschland, müssen wir feststellen, dass dieser Tage einen jeden von uns das Gefühl der Unsicherheit beschleicht. Da muss man nicht nur auf die besorgniserregende Entwicklung in der Ukraine schauen. In direkter Auswirkung des russischen Angriffskriegs erleben wir hier unsichere Zeiten wie lange nicht mehr: Werden wir unsere Energiekosten bezahlen können, müssen wir einen Blackout im Winter befürchten, wohin galoppiert die Inflation, ist unser Job noch sicher?
vereinte nationen Oder schauen wir zurück auf die Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York, als sich UN-Generalsekretär António Guterres an die Staats- und Regierungschefs wandte: »Unsere Welt ist in großen Schwierigkeiten«, sagte er und listete diverse politische Krisen und Konflikte auf.
Mehr Unsicherheit herrschte lange nicht. Doch das jüdische Volk hat eine gewisse Expertise in der Bewältigung unsicherer Zeiten.
Klingt nicht gut. Mehr Unsicherheit herrschte lange nicht. Doch das jüdische Volk hat eine gewisse Expertise in der Bewältigung unsicherer Zeiten. Da genügt ein Blick in die Vergangenheit unserer Geschichte. Und schon sind wir bei der Bedeutung des Laubhüttenfestes im Vergleich zu anderen Feiertagen des jüdischen Kalenders. Pessach ist der Erinnerung an den Auszug aus Ägypten gewidmet – steht also für die Vergangenheit. Schawuot ist das Fest der Gabe der immer gültigen Tora – steht also für die Gegenwart. Und an Sukkot geht es darum, wohin wir gehen. Es ist der Ausblick auf die Zukunft.
Diese Zukunft sehen wir zwar in der physischen Unsicherheit, aber im festen und schützenden Vertrauen auf G’tt. Wir sitzen an Sukkot sieben Tage in einer provisorischen Behausung. Unsere Sukka benötigt – im Gegensatz zu einem Haus – nicht vier, sondern nur zweieinhalb Wände. Auch hat sie kein dichtes Dach.
kompromiss Sie ist nicht perfekt, aber eine Art Kompromiss. Und Kompromiss ist meist Grundvoraussetzung für den Frieden. So sprechen wir in unseren Gebeten auch von Sukkat Schlomecha, also den »Hütten Deines Friedens«. Sukkot verkörpert den Frieden auf der Welt. Und den benötigen wir mehr denn je.
Vielleicht sollten wir auch Kompromisse in Bezug auf unsere Wünsche und Vorstellungen machen – nicht nur als Individuum, sondern als Gesellschaft. So wie wir im Moment der Pandemie die Bedeutung von Gesundheit und mit Blick auf den Krieg die Abwesenheit des Friedens erkennen, sehen wir vielleicht auch jetzt in der Energiekrise die Bedeutung des bislang als selbstverständlich betrachteten vollen Kühlschranks und des gut geheizten Wohnzimmers. Vielleicht verhilft uns das zu mehr Dankbarkeit gegenüber G’tt und zu mehr Zufriedenheit mit dem, was wir haben – und damit schließlich zu mehr Freude.
Vielleicht ist es ja auch ein gewisser Grund zur Freude, dass wir bereits seit Monaten wieder dabei sind, enger zusammenzurücken und die aktuellen Herausforderungen zu meistern. Die Corona-Pandemie, die uns schon das dritte Sukkotfest beschäftigt, hat uns vor Augen geführt, wie verletzlich wir sind. Sie hat uns gezeigt, dass wenig sicher ist, dass wir kaum vorausplanen können.
solidarität Aber sie hat uns auch gezeigt, wie sehr wir G’tt danken können für das, was wir haben und erleben dürfen, hier und jetzt. Und welch wundervolle Gesten der Solidarität und des Einsatzes für andere haben wir erlebt! Auch in der Flüchtlingskrise haben wir dieses außerordentliche Engagement für Menschen in Not gesehen. Daran sollten wir gerade an Sukkot erinnern, dem Fest, an dem unsere Hütten offen sind, wir Gäste und Fremde willkommen heißen.
Und so können wir an dieser Stelle nochmals Rabbi Sacks zitieren, der meint, dass Sukkot die Antwort auf die Unsicherheit ist, wenn wir die Sicherheit unserer Häuser verlassen und in Hütten sitzen, die den Elementen ausgesetzt sind.
Das zu tun und trotzdem sagen zu können, dass dies die Zeit unserer Freude, Sman simchatenu, ist, sei die höchste Errungenschaft des Glaubens, das ultimative Gegenmittel zur Angst: »Glaube ist die Fähigkeit, sich inmitten von Instabilität und Veränderung zu freuen und durch die Wildnis der Zeit einem unbekannten Ziel entgegenzureisen. Glaube ist, keine Angst zu empfinden. Glaube ist, keinen Hass zu empfinden. Glaube ist, keine Gewalt zu üben. Dies sind lebenswichtige Wahrheiten, die nie nötiger waren als jetzt.«
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt.