In Israel und der Diaspora feiern wir Tu Bischwat in diesem Jahr allein oder im kleinen Familienkreis – mehr ist zurzeit nicht erlaubt. Tu Bischwat, das Neujahrsfest der Bäume, ist der 15. Tag des Monats Schwat (fällt in diesem Jahr auf den Abend des 27. Januar und den 28. Januar).
Jedes Jahr empfinde ich Tu Bischwat als sehr inspirierenden Tag – den Beginn des Frühlings. Dieser ist in Israel schon zu erahnen, hierzulande noch nicht. Doch überall ist es ein Tag voller Hoffnung für unser Volk und unser Land.
Es ist aber nicht nur ein nationales Fest, es geht auch um unsere eigene Entwicklung. Und auch, wenn wir auf eine gemeinsame Feier verzichten müssen, haben wir vielleicht gerade jetzt die Möglichkeit, die tiefere Bedeutung des Tages im Sinne unseres persönlichen Wachstums zu erleben.
FRÜCHTE Heutzutage wird Tu Bischwat hauptsächlich durch den Verzehr von verschiedenen Früchten aus Israel gefeiert. Während des Seders werden viele Segenssprüche über die Früchte gesprochen, die sich auf dem reichlich gedeckten Tisch befinden.
Tu Bischwat hat seine eigenen Spielregeln, die mit dem Ausspruch »Weil der Mensch wie ein Baum des Feldes ist« assoziiert werden (5. Buch Mose 20,19). Wichtig ist der Vergleich zwischen Mensch und Baum. Ein Baum besteht aus drei Bestandteilen: den Wurzeln, dem Stamm mit den Zweigen und den Früchten.
Die Wurzeln eines Baumes sind nicht sichtbar, aber sie sind sehr wichtig, denn sie versorgen und pflegen den Baum. Über die Wurzeln erhält der Baum seine Nahrung aus der Erde. Der Stamm, die Zweige und die Blätter sind schön, aber nicht der wichtigste Sinn des Baumes. Nur durch die Früchte kann der Baum anderen wirklich nützen und sich fortpflanzen.
Auch beim Menschen kann man diese drei unterschiedlichen Elemente feststellen: Die Wurzeln vergegenwärtigen unseren Glauben, durch den wir mit G’tt verbunden sind. Er gibt uns die Basis und die Stabilität. Der Stamm der Persönlichkeit, seine Zweige und Blätter, sind die innerlichen Qualitäten des Judentums: das Lernen der Tora und das Befolgen der Gebote. Dabei entwickelt man sich menschlich weiter und wächst spirituell.
WACHSTUM Aber letztendlich handelt es sich um die Früchte, die der Mensch verbreitet, innerhalb seiner eigenen Familie, aber auch darüber hinaus. Ein Baum wächst andauernd. Dieses ist eine Lehre und eine Aufgabe, besonders in unseren persönlichsten Momenten. Obwohl wir körperlich nicht mehr wachsen, sollte unser geistiges Wachstum niemals enden, getreu dem Motto: Man lernt nie aus.
Geistiges Wachstum darf uns jedoch nicht von unseren Wurzeln loslösen. Bäume bleiben das ganze Jahr beständig, trotz klimatischer Veränderungen. Wir Menschen können daraus lernen und sollten versuchen, auf Veränderungen positiv zu reagieren. Tu Bischwat betont diese Wichtigkeit des inneren Wachstums – auch oder gerade in Zeiten des Lockdowns.
HÖREN Für uns Juden ist das Ohr das wichtigste Sinnesorgan. Hören deutet auf die Entwicklung von Beziehungen hin. Erinnern wir uns an unser bekanntestes Glaubensbekenntnis: »Schma Israel – Höre Israel!« Wir suchen in uns selbst die Entstehung der Einheit mit der vollkommenen Anwesenheit G’ttes. Das können wir allein tun. Wir brauchen nicht einmal »Zoom«.
Gerade durch unsere vertraute Beziehung mit dem Allerhöchsten können wir auch Fragen an G’tt stellen. Die Verbesserung der Welt ist für uns eine Lebensnotwendigkeit, da wir mit jeder Faser unseres Körpers darauf angewiesen sind. Wir suchen in unserem Leben nicht nur nach Stabilität. Wir suchen den Anschluss an die Wirklichkeit, Einfühlsamkeit und die Traditionen unserer Ahnen. Wir sollten im Wachstum bleiben, uns weiterentwickeln. Das bedeutet Instabilität, denn die Harmonie muss gestört werden, wenn wir wachsen möchten.
Tu Bischwat bedeutet, höher zu steigen, sich zu entwickeln, die innere Ruhe der abseits stehenden Harmonie zu verlassen, um zu dem zu werden, was wir in unserem tiefsten Wesen eigentlich sind. Diese Zeiten des Lockdowns sind perfekt dafür. In diesem Sinne: Chag sameach! Ein fröhliches Tu
Bischwat!
Der Autor ist Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, Dajan bei Europäischen Beit Din und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).