Das Weinen hat seine Zeit, wie auch das Lachen seine Zeit hat» (Kohelet 3,4). Der jüdische Jahreskreis zeichnet sich durch vielfältige Ereignisse aus, die das ganze Spektrum menschlicher Emotionen ansprechen.
Mit dem 17. Tag des Monats Tamus, der auf diesen Sonntag fällt, beginnt eine dreiwöchige Trauerperiode, in der wir der zweimaligen Zerstörung Jerusalems und seines Tempels durch die Hand der Babylonier im Jahr 587 v.d.Z. sowie der Römer im Jahr 70 n.d.Z. gedenken.
Am 17. Tamus wurde nach der Überlieferung die Stadtmauer Jerusalems während des römisch-jüdischen Krieges durchbrochen. Infolge der sich anschließenden Kämpfe innerhalb der Stadt erreichte das Massaker an der Bevölkerung schließlich seinen spirituellen Tiefpunkt mit dem Niederbrennen des Tempels am 9. und 10. Tag des Monats Aw.
OPFERSTÄTTE Der Tempel war nach jüdischem Glauben der Sitz einer verstärkten göttlichen Präsenz auf Erden, bildlich gesprochen das «Haus des Ewigen», und zugleich auch die einzig legitime Opferstätte Gottes sowie das geistige, politische und kulturelle Zentrum des jüdischen Volkes.
Im Vergleich zu Jom Kippur ist der 17. Tamus ein kleiner Fasttag.
Sowohl der 17. Tamus als auch der 9. Aw sind daher alljährliche Fasttage, an denen neben den Ereignissen um die Eroberungen Jerusalems auch verschiedener weiterer Katastrophen der jüdischen Geschichte gedacht wird (Taanit 29a).
Aufgrund der hohen Konzentration von herbem Leid sowie historischem Niedergang und Zerstörung in dieser Jahreszeit sieht die Halacha strenge und umfassende Trauerregeln für die drei sommerlichen Wochen zwischen den beiden Katastrophen des 17. Tamus und des 9. Aw vor.
Mit Anspielung auf einen Vers aus dem Buch der Klagelieder (1,3) wird diese Zeit auf Hebräisch «Bejn Hamezarim», «zwischen den Drangsalen», genannt.
FASTTAG Der 17. Tamus selbst ist dabei im Vergleich zu Jom Kippur oder dem 9. Aw nur ein kleiner Fasttag. Essen und Trinken sind vom Morgen an bis zum Erscheinen der Sterne am Abend verboten, nicht aber auch in der vorherigen Nacht wie in der Nacht von Jom Kippur oder dem 9. Aw.
Auch die am 9. Aw und Jom Kippur geltenden Verbote, zum Beispiel die des Waschens oder Tragens von Lederschuhen, gelten am 17. Tamus nicht. Dennoch hat sich im Laufe der Jahrhunderte der Brauch herausgebildet, vom 17. Tamus bis zum 9. Aw hin zunehmend strengere Enthaltungen auf sich zu nehmen.
Mischna und Talmud erwähnen, dass man von Rosch Chodesch Aw (dem Beginn des Monats Aw) an «die Freude vermindere». In der Woche, in die der 9. Aw fällt, solle man seine Kleidung nicht mehr waschen, sich nicht mehr rasieren und das Haar schneiden (Taanit 29b).
Am Vorabend oder zumindest zur letzten Mahlzeit vor dem Tag der Tempelzerstörung solle man dann auf den Genuss von Fleisch und Wein verzichten. Der Talmud schreibt auch vor, auf dem Boden hinter dem Ofen mit nur wenig Brot und Wasser in der Asche zu sitzen (30a und b).
HAARESCHNEIDEN Spätere Generationen, insbesondere in aschkenasischen Gemeinden, handhaben die Trauerbräuche ab dem 17. Tamus strikter. Hier ist es üblich, sich bereits von diesem ersten «Drangsalstag» an bis einschließlich einen Tag nach dem 9. Aw des Haare- und Bartschneidens, der Musik und aller Freuden, inklusive Hochzeiten, zu enthalten.
Schon ab Rosch Chodesch Aw sollen weder Fleisch noch Wein konsumiert werden, auch wäscht man sich in diesen neun Tagen nicht mehr. Durch diese und weitere Normen erscheint die jüdische Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit wie ein «Awel», ein Trauernder, der enge Familienangehörige verloren hat.
Die drei Sommerwochen gelten als «Zeit zwischen den Drangsalen».
Dieses wirkmächtige kollektive Trauern wird somit zum Symbol des zutiefst einschneidenden Verlusts des Tempels und somit eines großen Teils der Nähe Gottes, ganz so, als hätte Israel seinen Vater im Himmel selbst verloren. «Wie Waisen waren wir, vaterlos» (Klagelieder 5,3).
Ein gesetztes Ziel der am 17. Tamus und in den drei sich an ihn anschließenden tränenreichen Wochen geltenden Vorschriften ist es, dem Herzen Reue und Buße einzuflößen, auf dass die religiösen und ethischen Vergehen, wie etwa Misanthropie, durch die unsere Vorfahren die Zerstörung des Tempels verursacht haben, aus unserer Mitte weichen.
Der Ewige selbst, so erzählen unsere Weisen in ihrer bildhaften Sprache, erwidere die Trauer der Menschen. Er warte nur darauf, dass das Volk wahre Reue zeige, auf dass Er sich ihrer wieder erbarmen könne.
«Oj meinen Kindern, durch deren Vergehen ich mein Haus zur Ruine werden ließ und meinen Tempel niederbrannte und sie selbst unter die Völker verstreut habe» (Brachot 3a).
Wenn die Juden aber dereinst diese Teschuwa, die Rückkehr zu Gott, erreichten, würden die vier Fasttage und ihre Bitternisse annulliert werden, heißt es im Buch des Propheten Secharja: «So spricht der Ewige der Heerscharen: Das Fasten des vierten Monats (Tamus) und das Fasten des fünften Monats (Aw) … werden dem Hause Jehuda zur Freude und Fröhlichkeit und heiteren Festen werden. Allein die Wahrhaftigkeit und den Frieden, die liebet!» (8,19).
Der Autor ist Rabbiner und arbeitet an der Universität Potsdam.