In wenigen Wochen werde ich umziehen. Jeder, der schon einmal umgezogen ist, weiß, dass die Zeit vor dem eigentlichen Wohnungswechsel stressig werden kann. Man muss sich entscheiden, was man einpacken möchte, was man zurücklässt und was verschenkt werden kann. In den Wochen vor dem Umzug schmiedet man Pläne, schreibt Listen und trifft Vorbereitungen für die Zukunft.
Wenn ich mich so umschaue, erschrecke ich schon ein bisschen über die Menge der Dinge, die sich angesammelt haben. Da steht ein Buch, das ich einmal gekauft habe, weil ich es unbedingt lesen wollte, und dort liegt ein Geschenk von lieben Freunden. Auf meinem Schreibtisch stapeln sich Papiere, die ich mir bei Gelegenheit anschauen wollte. Und in den Regalen befinden sich unzählige kleine Andenken an schöne und besondere Momente in meinem Leben.
Bedeutung Mir geht es wie vielen anderen: Ich liebe meine Sachen. Das Problem ist nur, dass es nicht wenige sind. Und jetzt, da ich umziehe, wünsche ich mir, ich hätte weniger angehäuft. Natürlich fällt das Ausräumen schwer: Fotoalben, Zeichnungen, Bilder, Tassen, Kleidung, CDs ... Alles sind wichtige und schöne Erinnerungen. Jedes einzelne Stück in meinen Regalen und Schränken hat seine Bedeutung. Aber braucht man das alles wirklich? Nicht jede Sache ist es wert, von einem zum nächsten Ort mitgenommen zu werden, nicht jedes Buch, nicht jedes Bild. Es mag wehtun, aber das Aussortieren ist eine fundamentale Vorbereitung für jeden Umzug.
Aber ich bin darüber nicht wirklich unglücklich – im Gegenteil: Nicht nur, dass ich ein paar wahre Schätze hervorgekramt habe; das Aus-, Um- und Aufräumen hat auch Erinnerungen wachgerufen, die mir viel Freude bereiten – Erinnerungen an Situationen und Menschen, die mein Leben bis hierher begleitet haben. Entscheidungen werden wieder deutlich, und nicht nur einmal habe ich darüber nachgedacht, wie ein Schritt in meinem Leben zum nächsten geführt hat. So ganz nebenbei bin ich auf Dinge gestoßen, die mir wirklich wichtig sind und die ich schon länger aus den Augen verloren hatte.
Natürlich gibt es auch Sachen, die tief unter meinen anderen Besitztümern begraben waren und die ich nur ungern ans Tageslicht zurückgeholt habe. Dinge, die mich an Misserfolge und traurige Augenblicke in meinem Leben gemahnen, Erinnerungen an Menschen, die nicht mehr Teil meines Lebens sind, und Situationen, denen ich ungern wieder ausgesetzt sein möchte. So ein Umzug ist ein Wechselbad der Gefühle.
loslassen Nicht nur ich befinde mich inmitten von Umzugsvorbereitungen. Im Grunde stecken wir alle in der gleichen Situation. In wenigen Wochen beginnt das neue jüdische Jahr, und der Jahreswechsel sollte, genauso wie ein großer Umzug, gut geplant sein. Der Monat Elul, also die kommenden Wochen vor den Hohen Feiertagen, geben uns hierfür die notwendige Zeit und unsere Tradition die notwenige Hilfestellung.
Die Regale, die wir uns in den kommenden Wochen vornehmen sollten, sind in uns selbst zu finden. Wir stellen alle im Laufe der Zeit unglaublich viele Dinge in unseren »Regalen im Herzen« ab. Oft merken wir nicht, wie sie voller und voller werden – manchmal sogar zu voll.
Vielleicht ist da ein Streit mit einem Familienmitglied, der sehr viel Raum in unserem Leben einnimmt, eine Auseinandersetzung mit einem Nachbarn, die schwer zu ertragen ist, oder die Trauer um einen geliebten Menschen, die auf unserer Seele lastet. Manchmal halten wir so sehr an alten Erinnerungen fest, dass wir neue Momente gar nicht mehr wahrnehmen können.
In unserer Tradition ist der Monat Elul der Zeitpunkt, an dem wir spätestens die Dinge in unserer Seele und in unserem Herzen durchsehen sollten. Es ist jetzt an der Zeit, eine Art »Umzugsvorbereitung« zu starten, damit wir während des eigentlichen Umzugs – den Hohen Feiertagen – nicht unter der ganzen Last zusammenbrechen. Stück für Stück nehmen wir alles in die Hand, schauen, ob es noch »koscher« für das nächste Jahr ist, oder ob wir uns davon nicht besser trennen sollten. Wir stauben ab, räumen auf und sortieren aus und um.
Streitigkeiten Zu jedem Umzug gehört auch, dass man Dinge beendet, die mit der alten Wohnung in Verbindung stehen: Man muss den Telefonanschluss kündigen, sich von den Nachbarn verabschieden und die unterschiedlichsten regelmäßigen Lieferungen abbestellen. Und so sollten wir auch vor dem Umzug ins neue Jahr ein paar Dinge zu Ende bringen, die eindeutig in die Vergangenheit gehören und nicht in die Zukunft. Es ist an der Zeit, Streitigkeiten zu bereinigen, Konflikte zu lösen und vergangene Ereignisse abzuschließen. Jetzt sollten wir damit beginnen, Dinge, die uns belasten, im wahrsten Sinne des Wortes auszusortieren. Dazu gehört auch, den Mut zu fassen, jemandem zu sagen, dass er uns verletzt hat, oder andere um Entschuldigung zu bitten. Nur so schaffen wir Platz in unserer Seele.
Der Vorteil an einem Umzug ist, dass man jedes einzelne Stück in die Hand nehmen und entscheiden muss, ob man es wirklich mitnehmen will. Das gilt sogar für jedes einzelne Blatt Papier, das man in Ordnern und Schubladen aufbewahrt hat. Auch die Vorbereitungen auf die Hohen Feiertage bieten diese Chance. Die Dinge, die hier in die Hand genommen werden sollten, sind unsere persönlichen Entscheidungen und Werte: Bin ich eigentlich noch ich selbst? Ist das, was ich jeden Tag tue, richtig? Warum mache ich Dinge so und nicht anders? Woran glaube ich? Worauf vertraue ich? Wo stehe ich gerade in meinem Leben, und wie ist mein Verhältnis zu anderen Menschen und zu Gott? Bin ich ein guter Mensch?
Diese Fragen zu beantworten, ist nicht einfach. Es ist viel leichter, an alten Dingen festzuhalten: »Ich nehme den Ordner voller alter Dokumente einfach ungesehen mit in die neue Wohnung, da sein Inhalt schon irgendwie wichtig sein wird und ich später sicher mal mehr Zeit haben werde, um die Dokumente durchzusehen!«
Mit dieser Haltung versuchen wir, eine Abkürzung zu nehmen, die keine ist. Vor dem Umzug ist der beste Zeitpunkt, sich jede einzelne Schublade und jeden einzelnen Ordner genau anzusehen, danach ist es sehr unwahrscheinlich, dass wir wirklich noch einmal die Zeit dafür finden.
So ist auch vor den Hohen Feiertagen der beste Zeitpunkt, sich selbst zu prüfen. Der freie Wille, den jeder Mensch als besondere Gabe in sich trägt, bedeutet ein hohes Maß an Verantwortung. Dieser Verantwortung können wir aber nur nachkommen, wenn wir uns regelmäßig selbst überprüfen und die Sache nicht auf die lange Bank schieben. Genauso wenig sollten wir Dinge einfach nur so tun, weil wir sie schon immer so getan haben, und weil es bequemer ist, nicht darüber nachzudenken. Jeder Schritt, den wir in unserem Leben gehen, hat Konsequenzen, und mit diesen Konsequenzen sollten wir gut leben können. Wenn das nicht so ist, müssen wir etwas daran ändern.
richtung Unser Leben gleicht der Leiter in Jakobs Traum (1. Buch Mose 28,12): »Da war eine Leiter gestellt auf der Erde, ihre Spitze aber reichte gen Himmel ...«. Jeder von uns hat die gleiche Chance, auf dieser Leiter auf- oder abzusteigen, Gott näherzukommen oder sich vom Ewigen zu entfernen. Wir können versuchen, auf der Leiter einzelne Sprossen zu überspringen, wir können ängstlich oder auch zufrieden auf einer Stufe stehen bleiben oder gar herunterfallen. Alle Richtungen sind für jeden Einzelnen von uns möglich, und jede Entscheidung, die wir über unseren nächsten Schritt treffen, ist eine menschliche.
Vergessen dürfen wir aber nicht, dass – egal welche Richtung wir einschlagen –, dies immer auch eine Auswirkung auf unsere Beziehung zu anderen Menschen, zu uns selbst und zu Gott hat.
Der Monat Elul und die Hohen Feiertage rufen uns gerade diese besonderen Beziehungen in Erinnerung. Der Klang des Schofars, der mit dem Monatsbeginn jeden Morgen nach dem Morgengottesdienst (mit Ausnahme des Schabbats) erklingt, und die Slichot-Gebete, die je nach jüdischer Tradition schon zu Beginn des neuen Monats täglich, beziehungsweise erst am Morgen vor Rosch Haschana, unsere Liturgie erweitern, sind kleine Weckrufe: Wir sind nicht alleine auf dieser Welt und sollten unsere Position auf der Leiter des Lebens im Auge behalten. Im Zweifel sind wir auf dem falschen Weg, und es ist Zeit, umzukehren, zurück zu einem besseren Ausgangspunkt, zurück zu Gott.
chancen Der Gang durch unsere Seele ist nicht einfach. Mit alten Angewohnheiten zu brechen, kann belastend sein. Genau aufzulisten, was einen ausmacht, Ordnung in unser Leben zu bringen und vor Gott Rechenschaft abzulegen, kann ebenfalls schmerzhaft sein. Aber genau das ist das bestimmende Thema im Elul.
Der Umzug in das kommende Jahr wird am Ende unserer Seele guttun. Den Platz, den wir jetzt schaffen, können wir im kommenden Jahr neu nutzen, für die vielen Aufgaben und Ereignisse, die auf uns warten. Vergleichbar einem Umzug an einen neuen Ort bietet auch der Jahresbeginn neue Möglichkeiten.
Es mag sein, dass der Anfang nicht immer einfach ist, dass man sogar Angst vor den ersten Schritten hat und dass man sich erst an die neue Umgebung und an neue Menschen gewöhnen muss. Wenn man vor dem Umzug jedoch sein bisheriges Leben in Ordnung gebracht hat, Dinge, die einen belastet haben, lösen sowie Fehler, die man in der Vergangenheit begangen hat, erkennen und bereinigen konnte, dann sollte der Start ins neue Jahr gut gelingen.
Der Autor ist Absolvent des Abraham Geiger Kollegs in Potsdam. In Kürze zieht er nach Südafrika und übernimmt eine Stelle als Gemeinderabbiner in Johannesburg.