Selichot

Zeichen der Umkehr

Auch in den Tagen zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur werden die Selichot gesprochen – hier im September 2021 in Meron Foto: Flash 90


Die Selichot sind Gebete, in denen wir Gott um Vergebung für unsere Sünden und schlechten Taten bitten. Das hebräische Wort »Selicha« bedeutet »Verzeihung, Vergebung«. Der Ursprung für diese jüdische Praxis findet sich in der Bibel. Während sich Mosche 40 Tage auf dem Berg Sinai aufhielt und die Bundestafeln vom Ewigen empfing, beteten die Kinder Israel das von ihnen gegossene Goldene Kalb als ihren Gott an. Als Mosche zurückkehrte und davon erfuhr, zerbrach er die Gebotstafeln am Fuße des Berges.

Im Ringen Mosches mit Gott um Barmherzigkeit liegt der Ursprung für die Selichot.

Nach der Demütigung des Volkes wegen seines Götzendienstes ist es wiederum Mosche, der sich fürbittend bei Gott für die Kinder Israel einsetzt. In einer erneuten Gottesoffenbarung auf dem Sinai kommt es zur zweiten Auflage der Gesetzestafeln, und Mosche bekennt: »Ewiger, Ewiger, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied« (2. Buch Mose 34, 6–7).

Es sind 13 Eigenschaften Gottes, die aus diesem Text abgeleitet werden. Durch sie regiert der Allmächtige seine Schöpfung, und Mosche nimmt sie zum Anlass, auf die Umkehr Gottes zu setzen, auf dass Er sich von seinem Zorn über das Volk abwenden möge. In diesem Ringen Mosches mit dem Vater der Kinder Israels um seine Barmherzigkeit liegt der Ursprung für die Selichot-Gebete. Ihnen vorangestellt sind die bereits erwähnten »Schlosch essre Middot«, die 13 Eigenschaften.

TESCHUWA Ab dem Monat Elul beginnen wir, die Selichot-Gebete zu sprechen. Elul ist der letzte Monat im jüdischen Jahr und wird als Zeit der Vorbereitung und der Teschuwa für das kommende Jahr verstanden. Bei den sefardischen Juden beginnt man ab dem zweiten Tag im Monat Elul Selichot zu sagen – bis Jom Kippur. Nach aschkenasischer Tradition betet man am Schabbatausgang vor Rosch Haschana mindestens vier Tage bis zum Versöhnungstag.

Auch während der zehn Bußtage zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur werden also die Selichot gesprochen. Diese Texte sind aber etwas umfangreicher als die üblichen. Wir nennen diese Zeit auch die »furchtbaren Tage«. »Furchtbar« versteht man hier im Sinne von »ernsthaft« über den eigenen Lebensweg nachzudenken. Wir gehen in uns, prüfen unser Verhalten in der vergangenen Zeit, suchen Tikkun und Gottes Erbarmen in Erwartung seines Gerichts an Rosch Haschana und Jom Kippur. Das alles verbinden wir mit der Hoffnung, in ein besseres Jahr zu starten.

Historisch gesehen, schließen sich die 40 Tage des Eluls bis zum 10. Tischri (Jom Kippur, dem Versöhnungstag) an die oben beschriebenen 40 Tage an, die Mosche zum zweiten Mal auf dem Sinai verbrachte, bis Gott zur Vergebung bereit war. Tage des Wohlwollens und des Verzeihens, in denen wir uns ein Beispiel an Mosche nehmen, uns unbeirrt an Gott zu wenden: »Ich aber fiel nieder und lag vor dem Herrn 40 Tage und 40 Nächte; denn der Herr sprach, er wolle euch vertilgen. Und ich bat den Herrn und sprach: Herr, Herr, verdirb dein Volk und dein Erbe nicht, das du durch deine große Kraft erlöst und mit mächtiger Hand aus Ägypten geführt hast! Gedenke an deine Knechte Awraham, Jitzchak und Jakow! Sieh nicht an die Halsstarrigkeit und das gottlose Treiben und die Sünde dieses Volkes« (5. Buch Mose 9, 25–27).

In der aramäischen Sprache bedeutet das Wort Elul »suchen, herausfinden«. Zudem weist es Verbindungen zu einer Aussage des Schir Haschirim, des Hohenliedes, auf. Dort lesen wir: »Ani ledodi wedodi li« (6,3). Jedes dieser vier Wörter endet mit dem Buchstaben Jod. In der Gematrie (der symbolischen Interpretation von Worten mithilfe von Zahlen) wird dem Jod der Wert 10 zugeordnet. Multipliziert man die vier Jods miteinander, erhält man die Zahl 40, die den Zeitraum der 40 Tage vom ersten Elul bis zu Jom Kippur beschreibt.

Kurz und knapp gefasst, so können wir schließen, bringt der Satz aus dem Schir Haschirim das Ziel unserer Buße während des Eluls zum Ausdruck: »Ich gehöre meinem Geliebten, und mein Geliebter gehört mir.« Gott und Mensch sollen sich wieder näher- und entgegenkommen, um einander in einem von Sünde und Bosheit des Menschen befreiten und ungetrübten Verhältnis zugetan zu sein.

Das letzte Drittel der Nacht gilt als günstige Zeit, um die Selichot
zu beten.

Eine weitere Verbindung weist der Monat Elul zur Aussage im 5. Buch Mose 30,6 auf: »Und der Herr, dein Gott, wird dein Herz beschneiden und das Herz deiner Nachkommen, damit du den Herrn, deinen Gott, liebst von ganzem Herzen und von ganzer Seele, auf dass du am Leben bleibst.« Hier wird die Versöhnung, die der Ewige Mosche bei der Übergabe der zweiten Bundestafeln zusicherte, durch Gott selbst für alle Zeiten und Generationen den Kindern Israel bestätigt und festgeschrieben.

dämmerung Halachisch gesehen haben sich im Zusammenhang mit den Selichot-Gebeten im Laufe der Zeit verschiedene Sitten und Bräuche entwickelt. Die Bußgebete sollen im Monat Elul jeden Tag vor dem Morgengottesdienst gesprochen werden. Es wird empfohlen, sie vor dem Anbruch der Morgendämmerung zu sagen, im letzten Drittel der Nacht. Unsere Weisen gehen davon aus, dass Gott während der Nacht in den oberen Welten schwebt, sich jedoch in den letzten drei Stunden dieser Welt annähert und – im wahrsten Sinne des Wortes – sich uns zuneigt und sein Wohlwollen zeigt.

Die Selichot in der Mitternacht zu beten, zählt auch als eine günstige Zeit. So lesen wir es von König David: »Zur Mitternacht stehe ich auf, dir zu danken für die Ordnungen deiner Gerechtigkeit« (Psalm 119,62).
Doch es gibt auch die Auffassung, die Gebete im Laufe des ganzen Tages beten zu können. Der Schöpfer ist uns in den wohlwollenden Tagen des Eluls zu keiner Stunde abgeneigt, entgegenzukommen, wenn wir ihm unseren Willen zur Umkehr zeigen.

HAMMER In manchen Synagogen werden sogar Gottesdienste gefeiert, in denen mit einem kleinen Hammer an die Tür geklopft wird, um die Besucher darauf aufmerksam zu machen, dass es Zeit ist, die Selichot zu sprechen.

Die Gebete der Selichot bestehen aus einer Sammlung besonderer Dichtungen. Sie sind in der Zeit der Geonim zwischen 600–1040 n.d.Z. entstanden. Es handelt sich um Verse aus der gesamten jüdischen Bibel. Durch sie sprechen wir vor Gott die Verdienste unserer gerechten Vorfahren aus und nehmen sie vor ihm in Anspruch. Dabei hoffen wir, dass ihre Verdienste Gott dazu bewegen werden, sich erbarmend den heutigen Betern zuzuwenden, und Erlösung für Zion, für das verheißene Land, bringen werden.

Während dieser Besinnungszeit im Elul ruft man sich ganz bewusst die Mizwot in Erinnerung, die das Verhältnis zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Gott betreffen. So wie wir von Gott Gerechtigkeit und Barmherzigkeit erwarten, so sollen wir Zedaka und Barmherzigkeit üben. Ein Sprechen der Selichot, ohne dabei Reue über unsere Sünden zu empfinden, bleibt nutzlos.

Es bleibt nutzlos, die Gebete zu sprechen, ohne dabei Reue über unsere Sünden zu empfinden.

Um den Menschen aus seinem Sündenschlaf (Rambam), seiner selbstgefälligen Lebensweise zu wecken, ihn für ein »Mit-sich-selbst-ins-Gericht-gehen« zu bewegen, wird nach dem Morgengottesdienst das Schofar geblasen. Das geschieht während des ganzen Monats Elul bis einen Tag vor Rosch Haschana. Am Neujahrstag werden die freiwilligen Schofarbläser abgelöst durch einen Pflichtbläser. Seine Töne führen die Hörer zur Erschütterung der Seele und des Herzens über die bewusst gewordenen Sünden, zur Umkehr und zur Besserung ihres bisherigen Lebens.

CHASAN Der Chasan (Vorbeter), der den Gottesdienst leitet, sollte ein religiöser Mann, ein Toragelehrter sein, er sollte ernst und ehrlich sein, die Mizwot der Tora beachten, in seiner Gemeinde beliebt und zudem mit einer klaren und angenehmen Stimme ausgestattet sein.

Der Inhalt der Bußgebete soll mit tiefer innerer Bewegung und zugleich mit Gelassenheit vorgetragen werden. Durch die deutlich artikulierten Worte bringt der Mensch sein zerbrochenes Herz vor dem Schöpfer zum Ausdruck und begibt sich auf den Weg der Teschuwa. Es geht darum, zu dem Wegpunkt zurückzufinden, an dem ein Mensch sich für die Sünde entschieden und die Weisungen Gottes verlassen hat.

Kein Zweifel: Jeder von uns braucht die Teschuwa, weil Gott sie erschaffen hat, bevor er die Welt erschuf. Er wusste, dass es den Menschen ohne Sünde nicht geben wird.

Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

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