Das Erscheinen jüdischer Kinderbücher in deutscher Sprache ist ein erfreuliches Ereignis, zumal wenn sie sich an ein religiöses Publikum richten. Denn für diese Minderheit einer Minderheit gibt es in Deutschland keinen Markt.
Wer nicht auf den reichen Bestand an hebräischer, englischer, französischer und russischer Kinderliteratur (übersetzt oder im Original) zurückgreifen will oder kann, dem bleiben nicht viele andere Möglichkeiten: Bücher von Shlomit Tulgan vom Berliner jüdischen Puppentheater »Bubales«; für ältere Kinder Bücher des Morascha-Verlags, viele noch aus den 90er-Jahren, mit wenigen Illustrationen; oder die Reihe Erzähl es deinen Kindern der Judaistik-Professorin Hanna Liss.
Mit der fünfbändigen Übersetzung aus dem Englischen Die Wochenabschnitte der Tora von Rabbi Nachman Zakon will der Jourist-Verlag nun den mageren Büchermarkt bereichern. Ursprünglich erschien die Reihe im Artscroll-Verlag, der für seine 73-bändige Talmud-Ausgabe bekannt ist. Zum Zeitpunkt der Rezension liegen die ersten drei Bände auf Deutsch vor, die restlichen sollen noch in diesem Jahr erscheinen.
PARASCHOT Jedes Buch ist in Wochenabschnitte des synagogalen Lesezyklus der Tora gegliedert. Jeder Wochenabschnitt beginnt mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse. Der Haupttext ist in mehrere kleinere Abschnitte unterteilt, die sich jeweils auf ein Thema konzentrieren. An den Seitenrändern sind kleinere Texteinheiten platziert, die verschiedene Themenbereiche beleuchten, Fragen beantworten oder den Bezug zur heutigen Zeit herstellen. Zusätzlich finden sich im Buch verstreut vertiefende Erläuterungen zu einzelnen Themen. Die Übersetzung ins Deutsche ist gut gelungen.
Die Bücher sind von Tova Katz reich illustriert, fast jede Seite ist bebildert, aber die Bilder werden nicht jeden ansprechen. Die Kleidung und das Aussehen der Menschen erinnern an die Juden im orthodoxen Viertel Mea Shearim in Jerusalem, was wahrscheinlich die Lebenswelt des Autors und der Zielgruppe darstellt. Die Männer tragen lange Umhänge, Bärte und Schläfenlocken, auf dem Kopf einen Tallit oder Turban.
Positiv hervorzuheben ist die seltene, aber doch vorhandene Präsenz von Frauen – in orthodoxen Verlagen keine Selbstverständlichkeit. Die Gesichter der Erzväter Awraham, Jizchak und Jakow sowie von Mosche und Aharon werden nicht gezeigt, man sieht nur ihre Rücken. Ich habe mehrere Rabbiner nach dem Grund für diese Besonderheit gefragt, aber keiner hatte eine Antwort; es scheint ein moderner Trend zu sein.
Gut gelungen sind die detaillierten Grafiken, die sakrale Elemente darstellen, wie die Kleidung der Kohanim und die Geräte des Stiftszeltes. Wer aber wissen will, welche Bilder ein modernes Publikum über alle Richtungen hinaus wirklich ansprechen, sollte einen Blick werfen in das bildgewaltige Meisterwerk Passover Haggadah Graphic Novel von Jordan Gorfinkel und Erez Zadok.
MIDRASCHIM Am Ende des Buches befindet sich ein ausführliches Quellenverzeichnis zu jedem Abschnitt. Es gibt an, aus welchen Midraschim der Autor sein Material entnommen hat. Und genau hier liegt die größte Stärke und zugleich die größte Schwäche des Buches, an der sich die Geister scheiden werden – die Midraschim. Midraschim sind Sammlungen rabbinischer Predigten, Gleichnisse, Auslegungen, Geschichten und Legenden. Diese Sammlungen sind über einen langen Zeitraum von mehr als 1000 Jahren entstanden und bilden ein umfangreiches literarisches Korpus. Sie bieten Erklärungen und Interpretationen zu schwierigen Passagen der Tora und liefern zusätzliche Details oder Hintergrundinformationen, die in der Tora nicht enthalten sind.
Im deutschsprachigen Raum ist ein solches Werk einzigartig.
Jeder Lehrer, jeder Elternteil muss sich die Frage stellen, ob es sinnvoll ist, die Midraschim mit der Tora zu vermischen und sie dem Kind als Einheit zu präsentieren, ohne die Unterschiede zu betonen. Da in diesem Buch die Tora nicht direkt zitiert, sondern mit dem Midrasch vermischt erzählt wird, besteht die Gefahr, dass das Kind den Text der Tora mit Legenden vermischt.
Das zeigen viele Beispiele: So wurde Awraham von einem Riesen besucht, der Sara heiraten wollte, Esaw wollte seinem Vater Jizchak einen Hund als Speise vorsetzen, die Erbauer des Turmes von Babel wurden in Affen verwandelt, Josef wurde in einem Metallsarg im Nil begraben, Jakows Enkelin lebte 650 Jahre, Josef ließ alle Ägypter beschneiden, Awrahams Kamele konnten schweben, die jüdischen Kinder in Ägypten wuchsen im Wald auf und ernährten sich von Steinen, die Hand der Pharaonentochter verlängerte sich, als sie nach dem Korb griff und so weiter.
KURIOSITÄTEN Zauberei, Verwandlungen, Engel, Ungeheuer und andere seltsam anmutende Kuriositäten fehlen nicht. Doch was auf den ersten Blick flach und albern erscheint, hat einen tiefen Sinn. Die Rabbiner erzählen nicht einfach nur Geschichten. Die Geschichten sind vielmehr wie Geschenkpapier, mit dem sie moralische Lehren und Weisheiten verpacken. Wenn man das Innere weglässt und nur die Hülle zur Hauptsache macht, werden die Geschichten trivial, und genau das passiert hier.
Schon der Rambam, Maimonides, warnte in seinem Führer der Verwirrten davor, die Midraschim wörtlich zu nehmen: »Die Midraschim unserer Lehrer sind in gewisser Weise poetische Allegorien, aber nicht so, als ob dies die wahre Bedeutung dieser Schrift wäre. In der Tat sind die Leute geteilter Meinung über die Midraschim. Die einen nehmen sie wörtlich als Erklärung der Schriftverse, die anderen machen sich über sie lustig, weil das offensichtlich nicht der Sinn der Schriftstelle ist. Aber keine der beiden Parteien hat begriffen, dass sie als Poesie zu verstehen sind, an deren Sinn kein denkender Mensch zweifeln kann.«
Die eigentlichen Stärken der Edition zeigen sich im zweiten Band.
Im Laufe der Jahrhunderte entstand eine umfangreiche Kommentarliteratur zur Auslegung der Midraschim, die über die oberflächlichen Geschichten hinausgeht. Sicherlich haben Midraschim auch als Geschichten ihren Vorteil: Sie machen die Erzählung spannend. Für das Buch Bereschit ist dies meines Erachtens nicht notwendig, da die Erzählung an sich schon voller Dramatik ist. Eine kindgerechte Bearbeitung des Textes, wie sie Hanna Liss vorgenommen hat, reicht aus.
HALACHA Die eigentlichen Stärken des Werkes zeigen sich im zweiten Band. Hier werden die abstrakten Gebote der Halacha mit Leben gefüllt und mit der Lebenswirklichkeit der Kinder verknüpft. Die Kinder werden motiviert, andere zu respektieren und gut mit ihnen umzugehen. Ihnen wird anschaulich gemacht, dass es besser ist, die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie dadurch Nachteile erleiden. Kurze und direkte Aussagen regen zum Nachdenken an: Auch wenn wir schwere Zeiten durchmachen und mit Problemen kämpfen, ist Gott stets bei uns und kümmert sich um unseren Schmerz.
Ein großer Teil des zweiten Buches ist dem Bau des Stiftzeltes gewidmet. Dem Autor gelingt es hier, den Detailreichtum nicht nur für Kinder sehr ansprechend und anschaulich zu gestalten. Im deutschsprachigen Raum ist ein solches Werk einzigartig. Sein Umfang und Detailreichtum wird nicht nur für Kinder von großem Nutzen sein. Und unter der Webadresse https://meine-tora.org/videos lädt der Verlag zudem zur Teilnahme am deutschlandweiten Wettbewerb Chidon Hatanach Junior ein – mit kurzen Videos zu den Wochenabschnitten.
Dieser Wettbewerb wird von der Jewish Agency for Israel und der Europäischen Janusz Korczak Akademie durchgeführt. Die Gewinner des Wettbewerbs werden bis Ende des Jahres von einer unabhängigen Jury ausgewählt und mit Preisen ausgezeichnet.
Der Autor ist Rabbiner und lebt in Berlin.
Rabbi Nachman Zakon: »Die Wochenabschnitte der Tora«.
Ab acht Jahren. Aus dem Englischen übersetzt vom Jourist-Verlag Hamburg. 1. Buch Bereschit, 269 S., 2. Buch Schmot, 199 S., je 29,95 €