Der Fall DSK

Zählt bis 49!

Der Skandal um Dominique Strauss-Kahn macht weltweilt Schlagzeilen, besonders auch in seiner französischen Heimat. Foto: dpa

Genau in dem Moment, als Dominique Strauss-Kahn (DSK) auf spektakuläre Weise verhaftet wurde, waren seine Tage als mächtiger Mann gezählt.

Hätte er doch lieber »Omer« gezählt, wäre das vielleicht nicht so passiert. In der Tat gibt es einen Zusammenhang. Die Mizwa des Omer-Zählens ist eine spirituelle Handlung, die mit entsprechender »Kawwune« (jiddisch für »Meditation«) ausgeführt sich positiv auf das Selbstwertgefühl des Handelnden auszuwirken vermag. Also auf den Geist wohlgemerkt, nicht auf die niederen Triebe. Um die geht es auch gar nicht, wenn mächtige Männer die Beherrschung verlieren. Nur oberflächlich scheint das so. Im Folgenden soll diesem vereinfachten, ja geradezu reflexartigen Erklärungsmythos entgegenargumentiert werden.

Das Zählen des Omer als Countdown zu Matan Tora hat unter anderem die Funktion, Pessach und Schawuot miteinander zu verbinden, um das Gemeinsame der beiden Feste durch die täglich steigende Spannung zum Ausdruck zu bringen: die Freiheit. Freiheit ist ein geistiges Konzept, welches nur dann zur Entfaltung und Vervollkommnung kommt, wenn sie körperlich möglich ist. Unsere Seele wohnt schließlich auch in einem Körper, und ein körperliches Wohlergehen nützt wenig, wenn das seelische dazu fehlt.

In unserem jüdischen Kalender kommen diese beiden Pole durch Pessach und Schawuot zum Ausdruck. Während wir zu Pessach unsere körperliche Freiheit durch Jeziat Mizrajim feiern, geht es zu Schawuot durch Matan Tora um unsere geistige Freiheit. Schon unsere Weisen wiesen darauf hin, dass körperliche Freiheit allein einen eher zweifelhaften Wert darstellt, drohe sie ja ohne geistige Entsprechung gar sich selbst abzuschaffen. Dies kommt einem Rückfall in die Sklaverei gleich.

Der Talmud (Rosch haSchana 9b) definiert den Sklaven als Unfreien, der eben von anderen Menschen oder Mächten be-
herrscht wird. Wer sich selbst nicht beherrscht, ist noch schlimmer dran.

Beherrschung Es drängt sich die Frage auf, wieso es immer wieder mächtige Männer schaffen, sich selbst nicht beherrschen zu können. Wer es etwa bis an die Spitze des mächtigen Internationalen Währungsfonds geschafft hat, wie eben DSK, hat es wohl kaum ohne Disziplin bis dorthin gebracht. Wieso versagt diese Disziplin dann so spektakulär?

Wieso dieser tiefe Fall in die Unfreiheit, die in aller Öffentlichkeit vor allem eins ist: peinlich? Das Bild des gerade noch mächtigen DSK in Handschellen könnte es nicht treffender fragen.
Reflexartig wird auf die angebliche Beziehung zwischen Testosteron und Ehrgeiz und andere wohlklingende Erklärungen verwiesen. Aber es gibt ja schließlich auch ehrgeizige und mächtige Männer, die ihre Macht mit ihrem Testosteron nicht verqui-cken. Der sexuelle Trieb ist hier also kaum ursächlich, sondern eher nebensächlich, ja gar untergeordnet und damit eher Instrument als Triebfeder. Aber schon der Begriff »Trieb« verleitet zu verkürzten Erklärungsmustern.

Bei den mächtigen Männern, die sich selbst nicht beherrschen können, geht es wohl gerade ums Beherrschen von anderen. Die Sexualität wird dieser Machtsucht bei ihnen untergeordnet, und sie bilden sich sehr wahrscheinlich sogar selbst ein, besonders potente Böcke zu sein, die das dürfen. Das bricht sich wohl dann und dort überall Bahn, wo Gelegenheiten sich dazu bieten – sei es am Verhandlungstisch oder eben im Hotelzimmer.

In beiden Fällen stets bei einem Gegenüber, das schwächer ist und somit leichte Beute darstellt. Bei einem stärkeren Gegenüber kommt das Verlangen nach Beute wohl gar nicht erst auf. Die gekränkte Seele sucht sich zu schützen. Sie triumphiert aber über jede gelungene Unterwerfung. Kommt das Sexuelle ins Spiel, mutiert dieser Sieg zur körperlichen Befriedigung. Ein zweifelhafter Sieg; ist es doch die Seele, die nach wie vor gekränkt bleibt. Wer derart getrieben ist, ist ein Getriebener.

Anerkennung Ein Drang nach Anerkennung steckt nun aber mehr oder minder in uns allen, genauso wie der Drang nach Freiheit. Die jüdische Spiritualität nimmt sich beider an, um hier für Ausgleich zu sorgen.

Was den Drang nach Freiheit betrifft, lehrt uns die Wechselbeziehung zwischen Pessach und Schawuot, dass körperliche Freiheit und geistige Freiheit zwei Seiten derselben Münze darstellen: Geistige Freiheit ist ohne körperliche nicht möglich; körperliche ist ohne geistige nicht zu sichern. Sieben Wochen im Jahr haben wir allabendlich die Gelegenheit dazu, darüber nachzusinnen und uns regelmäßig in unserer Freiheit neu zu positionieren in einem sich ständig um uns herum wechselnden Umfeld.

Was den Drang nach Anerkennung betrifft, reichen selbst sieben Wochen im Jahr nicht, so stark ist hier unser aller Verlangen. Ständig suchen wir Anerkennung, ja Liebe, als Balsam für unsere Seelen. Selbst der wöchentlich wiederkehrende Schabbat kann dem auch nur einigermaßen nachkommen. Wenigstens einmal in der Woche soll sich die Seele erfrischen. Das Feiern des Schabbat an sich drückt den Glauben darüber aus, dass die Welt von einem Schöpfer erschaffen wurde.

Das macht nicht nur demütig, sondern erzeugt zugleich ein gesundes Selbstwertgefühl, denn es wird einem deutlich: Die Schöpfung ist auf einen Schöpfer zurückzuführen, der einen selbst als Teil dieser Schöpfung in die Welt stellt. Ohne diesen Schöpfer ist man demnach zufällig ein Teil der Schöpfung und kann genauso gut auch ein Wurm, ein Stein oder ein Windhauch sein. Keine gute Ausgangslage für ein gesundes Selbstwertgefühl.

Der Glaube an einen Schöpfer ist alles andere als naiv, vermag er wenigstens einmal die Woche für Selbstwertgefühl und zugleich Demut zu sorgen. Was dem selbst ernannten Intellektuellen als Krücke und dem Mächtigen als Lächerlichkeit erscheint, ist in Wahrheit Teil einer universellen Moral. Schließlich hat das Schabbat-Gebot Eingang gefunden in das bekannteste Dokument der Menschheit: den Dekalog. Dem Ideal einer besseren Welt kommt eine Menschheit mit Menschen mit ausgeglichenem Seelenhaushalt allemal näher als jede intellektuelle Ideologie oder Machtgehabe.

Demut Gerade von den Mächtigen dürfen wir erwarten, dass sie in diesem Punkt Vorbildfunktion ausüben, besonders in demokratischen Strukturen, wo ihre Macht von anderen kommt. Zu Recht erwarten wir gerade von ihnen einen ausgeglichenen Seelenhaushalt: gesundes Selbstwertgefühl, um die ihnen übertragene Macht zur Gestaltung einer besseren Welt richtig einzusetzen, und auch etwas Demut dazu.

Diese brauchen sie mehr als andere, da sie durch ihre Macht in Situationen kommen, in denen ihnen Fehler oder gar Sünden geradezu zwangsläufig unterlaufen. Dann ist statt immer mehr Macht lieber Demut angesagt. Der Talmud verleiht der Demut gar die Kraft, alle Sünden bereinigen zu können (Rosch haSchana 17 a,b).

Aber gerade die Mächtigen sind oft Getriebene eines Mangels an Demut und Selbstwertgefühl, welches sie zu immer weiteren Eskapaden von Machtmissbrauch (ver)führt. Dass sie sich diszipliniert verhalten können, haben sie durch ihre Karrieren bewiesen. Versagt diese Disziplin, dann nicht, weil sie einen unausgeglichenen Hormonhaushalt haben, sondern ei-
nen unausgeglichenen Seelenhaushalt.

Gerade die Zeit des Omer-Zählens – zwischen Pessach und Schawuot – kann in diesem Sinne zur spirituellen Bereicherung beitragen.

Der Autor ist Rabbiner der Budge-Stiftung, Frankfurt/Main.

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