Es ist schwierig, jemanden zu bitten, etwas zu tun, das er nicht versteht. Schließlich leben wir in modernen Zeiten, sind vernünftige Menschen, die alles wissen und durchdringen wollen. Hinzu kommt, dass es heute recht leicht ist, alles bis ins Detail zu recherchieren und einer Sache auf den Grund zu gehen, denn das Internet liefert uns alle möglichen Informationen. Und auch, wenn wir nicht 100-prozentig sicher sein können, ob sie auch stimmen, beruhigt uns doch die Überzeugung (oder das Gefühl?), alles verstanden zu haben.
Die kritische Beobachtung so mancher Zeitgenossen richtet sich auch auf religiöse Traditionen und Riten. Sehr gern nehmen sie Angehörige anderer Religionen ins Visier – Menschen, die Sitten und Bräuche befolgen, die ihnen selbst fremd sind.
Kulturelle Gewohnheiten, die ihnen ungewöhnlich erscheinen, rauben ihnen die Ruhe und nähren ihre Zweifel. Beispiele dafür brauche ich nicht zu nennen. Ihr Kopf ist voll von Dingen, die sie bei »den anderen« gesehen haben und mit denen sie ganz und gar nicht einverstanden sind.
weisheit Immer wieder kommt es vor, dass Menschen sich auch Bräuche ihrer eigenen Religion nicht erklären können. Die Tora nennt ein Gebot oder Verbot, das man nicht versteht und wahrscheinlich auch nie verstehen wird, Chok. »All dies habe ich versucht mit Weisheit. Ich dachte: ›Weise will ich werden‹, aber es ist mir nicht gelungen« (Kohelet 7,23) – so beschreibt König Salomon, der weiseste Mensch der Welt, seinen Versuch, das berühmte Gebot der Roten Kuh zu begreifen.
Die Gründe für die Mizwot haben uns und unsere Weisen schon immer beschäftigt. G’tt hat uns alle 613 Ge- und Verbote gegeben, und Er hat uns Verstand und Weisheit gegeben, um sie zu durchdringen. Denn wenn man ein Gebot versteht, erfüllt man es auch gern.
Doch es gibt unterschiedliche Antworten auf die Frage nach dem Hintergrund der Mizwot. Manche Rabbiner, wie Rabbi Jehuda Halevi, der Kuzari oder der Maharal, sehen die Gebote als Mittel, sich G’tt zu nähern. Jede Mizwa sei ein Meilenstein auf dem Weg, die Welt zu verbessern und zum Ziel zu kommen, den Willen G’ttes zu erfüllen.
verstand Die Rabbiner meinten, ein Mensch könne mit seinem Verstand die Mizwot nicht nachvollziehen. Sie seien uns von G’tt gegeben, und wir wüssten nicht, welche Mizwa welchen Einfluss auf die Welt hat. Somit könnten wir auch nicht erklären, warum man ausgerechnet diese oder jene Mizwa erfüllen muss. Es sei uns lediglich bekannt, dass wir, indem wir alle Mizwot befolgen, an uns arbeiten und zur Verbesserung dieser Welt sowie zu ihrer Annäherung an G’tt beitragen.
Maimonides, der Rambam, vertrat allerdings die Meinung, wir sollten die Mizwot durchaus verstehen. Er unterteilte die Ge- und Verbote in drei Kategorien: in solche, die die richtige Weltanschauung vermitteln; in jene, die unsere Tugenden und unser Verhalten verbessern, und in andere, die uns auftragen, bestimmten gesellschaftlichen Regeln zu folgen (More Newuchim 3,31).
Maimonides meinte, bestimmte Mizwot könnten jedoch nicht alle Menschen verstehen. Dies liege daran, dass manche nicht genügend ausgebildet oder schlichtweg nicht klug genug seien.
liebe Die dritte Gruppe von Rabbinern sind jene, die es vermeiden, die Mizwot zu erklären. Ihrer Meinung nach besteht die einzige Erklärung dafür, warum wir die Mizwot erfüllen, darin, dass G’tt sie befohlen hat. Dies sei ein mehr als ausreichender Grund, warum man sie mit viel Liebe und Begeisterung erfüllen soll.
Jedes Suchen nach einer Begründung ziehe die Mizwa in Zweifel. Wir würden sie nach unserem Verständnis erklären wollen und nicht danach fragen, was G’tt gemeint hat. Und hätten wir dann eine vermeintliche Begründung gefunden, könnte uns eine Mizwa vielleicht nicht mehr so wichtig erscheinen, und wir würden sie vernachlässigen.
Ein Beispiel dafür ist König Salomon. Obwohl es die Tora verbietet, nahm er sich zahlreiche Frauen. Er meinte, stark genug zu sein – doch er war es nicht, und seine Frauen verleiteten ihn zum Götzendienst.
Wir möchten die Mizwot verstehen – und ja, wir können es, sei es individuell oder als Einheit. Das Judentum schafft es, eine Balance zwischen dem Glauben und der Wissenschaft herzustellen. Selbst die Mizwa der Roten Kuh kann von uns verstanden werden. Mosche hat es geschafft, dann sollten wir es vielleicht auch schaffen, oder?
Nun ja, es hängt von der eigenen Vorbereitung ab – und von der Intensität unseres Torastudiums. Doch bis wir die Mizwot eines Tages verstehen, sollten wir sie mit Liebe erfüllen, denn so hat es uns G’tt befohlen.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/Main und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).
inhalt
Der Wochenabschnitt Chukkat berichtet von der Asche der Roten Kuh. Sie beseitigt die Unreinheit bei Menschen, die mit Toten in Berührung gekommen sind. In der »Wildnis von Zin« stirbt Mirjam und wird begraben. Im Volk herrscht Unzufriedenheit, man wünscht sich Wasser. Mosche öffnet daraufhin eine Quelle aus einem Stein – aber nicht auf die Art und Weise, wie der Ewige es geboten hat. Mosche und Aharon erfahren, dass sie deshalb das verheißene Land nicht betreten dürfen. Erneut ist das Volk unzufrieden: Es ist des Mannas überdrüssig, und es fehlt wieder an Wasser. Doch nach der Bestrafung bereut das Volk, und es zieht gegen die Amoriter und die Bewohner Baschans in den Krieg und erobert das Land.
4. Buch Mose 19,1 – 22,1