Wie hoch ist der Prozentsatz der Menschen, die (zumindest gelegentlich) Sünden begehen? Zur Beantwortung dieser Frage sind wir nicht auf langjährige Forschungen angewiesen. In der Bibel heißt es unmissverständlich: »Keinen Menschen gibt’s auf Erden, so gerecht, dass er nur Gutes tät und nimmer fehlte« (Kohelet 7,20). Dieser Sachverhalt ist gewiss ernüchternd, aber er braucht uns nicht traurig zu stimmen. Denn die Tora zeigt Sündern einen Ausweg.
In einer Mischna lehrt Rabbi Schimon: »Halte dich nicht für einen unverbesserlichen Sünder« (Sprüche der Väter 2,18). Der Ausweg, den die Tora vorgesehen hat, ist die Teschuwa. Wie Rabbiner B. S. Jacobson bemerkte, ist der hebräische Begriff »Teschuwa« nicht durch ein deutsches Wort wiederzugeben. Die wörtliche Übersetzung »Umkehr« bezeichnet nur ein Verhalten; Teschuwa meint aber auch einen Gemütszustand, den man als Reue bezeichnet. Ist von Teschuwa die Rede, muss man aber sowohl an Reue als auch an Umkehr denken.
Teschuwa In seinem großen religionsgesetzlichen Kodex hat Moses Maimonides zehn Kapitel über Teschuwa geschrieben. Mein Lehrer, Rabbiner J. B. Soloveitchik seligen Angedenkens, hat einmal angeregt, man solle an jedem der zehn Tage der Teschuwa eines dieser Kapitel studieren. Erfreulicherweise sind die Ausführungen von Maimonides über die Teschuwa in einer brauchbaren Übersetzung ins Deutsche erhältlich.
Interessant ist es, wie Maimonides das Tora-Gebot der Teschuwa definiert: »Wenn der Mensch eine Vorschrift der Tora übertreten hat … und er tut Teschuwa, so muss er vor Gott ein Sündenbekenntnis in Worten ablegen.« Die zentrale Bedeutung des Sündenbekenntnisses wird hier betont. An anderer Stelle stellt Maimonides fest, dass jeder, der ein Sündenbekenntnis ablegt und nicht entschlossen ist, das Unrecht in Zukunft zu lassen, etwas Sinnloses macht. Wenn Teschuwa Versöhnung bewirken soll, dann darf sie nicht halbherzig erfolgen.
Über den Zeitpunkt für die Umkehr schreibt Maimonides: »Obgleich Teschuwa und Gebet immer angebracht sind, so sind sie es besonders in den zehn Tagen zwischen Rosch Haschana und dem Versöhnungstag (Jom Kippur) und werden an ihnen sofort angenommen … Der Versöhnungstag ist die Zeit der Teschuwa für alle, für den Einzelnen und für die Gemeinschaft; er gewährt Israel die vollkommene Vergebung und Verzeihung. Alle sollen darum am Versöhnungstag Teschuwa tun und ein Sündenbekenntnis ablegen.«
Sündenbekenntnis Im Gebetbuch (Machsor) für den Versöhnungstag findet sich eine Auflistung von 44 Sünden (Al-Chet-Bekenntnis). Diese Liste sprechen wir als Sündenbekenntnis, und zwar mehrmals an diesem heiligen Tag. Manche Gemeinden verwenden für diese 44 Zeilen eine ins Ohr gehende fröhliche Melodie, die in einer gewissen Spannung zu dem ernsten Text steht. Der Gesang darf aber nicht dazu verleiten, die ernsten Inhalte nicht zu reflektieren. Aufgelistet sind die 44 Sünden in alphabetischer Reihenfolge, zwei für jeden Buchstaben des hebräischen Alphabets.
Wie viele andere Gebetstexte, so verdient auch das Al-Chet-Bekenntnis eine nähere Betrachtung im Lehrhaus. An dieser Stelle sei lediglich auf eine erklärungsbedürftige Zeile näher eingegangen. Auf den ersten Blick staunt man, dass Beter um Verzeihung bitten »für die Sünde, die wir vor dir begangen haben durch das Bekenntnis mit dem Munde«. Kann Sündenbekenntnis Sünde sein? Sündenbekenntnis in Worten ist, wie Maimonides lehrt, doch ein Gebot der Tora. Von welcher Sünde spricht hier das Al-Chet-Gebet? Es muss sich um eine früher gegebene Erklärung des Beters handeln, die damals nicht aufrichtig gemeint war.
Verteidigungsrede Zur Illustration: Ein Psychotherapeut beispielweise, dem eine Klientin vorwirft, er habe sie während der Behandlung zutiefst gekränkt, rechtfertigt sein Verhalten und beendet die Verteidigungsrede mit dem Satz: »Klar ist, dass ich nichts falsch gemacht habe, und trotzdem bitte ich um Verzeihung.« Eine solche »Entschuldigung« ist offensichtlich verlogen und darf mit Fug als eine weitere Sünde neben der Kränkung angesehen werden. Der hier erläuterte Al-Chet-Satz ermahnt den Beter, ein Bekenntnis nur mit voller Intention zu sprechen. Sonst begeht er eine neue Sünde!
Indem die Tora von jedem, der eine Sünde beging (also von uns allen), das Ablegen eines Sündenbekenntnises verlangt, fordert sie von uns Aufrichtigkeit und die Überwindung unserer Neigung zur Selbstgerechtigkeit. Bemerkenswert ist, wie Maimonides eine im Babylonischen Talmud (Joma 86b) umstrittene Frage entschieden hat: »Die Sünden, die man schon am vergangenen Versöhnungstag begangen hatte, bekennt man am folgenden Versöhnungstag nochmals, obgleich man sie nicht noch einmal begangen hat.« Auf diese Weise können längst bereute und bereits verziehene »Untaten« ein Ansporn bleiben, weniger Sünden zu begehen.
Der Autor ist Psychologe und lehrt an der Universität zu Köln.