Das waren noch Zeiten, als man noch problemlos in den Sinai fahren konnte! Ohne Warnungen vom Auswärtigen Amt wegen Terroristen, die seit der politischen Umbruchphase in Israels Nachbarland die ägyptische Halbinsel unsicher machen. Als ich das erste Mal dorthin fuhr, war ich Anfang 20. Meine Freundin und ich buchten eine Drei-Tages-Tour per Jeep: Mount Sinai, Katharinenkloster, Übernachtung im Beduinencamp, Kamelreiten in der Wüste und Chillen am Roten Meer.
Reisegruppe Unsere kleine Truppe war bunt zusammengewürfelt: Reiseleiter Boris, Kobi und Hila, zwei Studenten aus Tel Aviv, und Marion aus Köln, etwa in unserem Alter. Dann gab es noch Celine und Colette, zwei aufgestylte französische Teenager, die ihre High Heels gegen Wanderschuhe eingetauscht hatten, um zusammen mit ihren Eltern den Berg zu erklimmen, an dem sich Gott Moses offenbart haben soll.
Elfter im Bunde war schließlich Mosche. Nicht der Prophet, sondern Mosche aus Holon. Kein Witz! Er hieß wirklich so wie sein berühmter Namensvetter, der das jüdische Volk aus der ägyptischen Sklaverei ins Gelobte Land geführt hat. Auf dem Weg empfing er am Berg Sinai die Tora mit den Zehn Geboten. Aber wo genau? Diese Frage stellten wir uns alle. Umso gespannter brachen wir zum Gipfel auf.
Der Weg hinauf dauerte gut drei Stunden. Kein Wunder bei mehr als 2000 Metern Höhenunterschied! Celine und Colette wanderten, ohne zu murren. Marion ließ sich von Ajmen, einem ägyptischen Reiseleiter, der sich zu uns gesellt hatte, auf ein Kamel hieven.
Steine Und Mosche? Sammelte Steine. »Was willst du mit all den Steinen?«, fragte ihn Ajmen neugierig. »Andenken«, erwiderte Mosche keuchend. Der Rucksack wurde zusehends schwerer. »Aber wieso?«, beharrte Ajmen. »Wegen Mosche«, erklärte Mosche aus Holon. »Hier hat er die Tora bekommen. Ich will wissen, wie sich das angefühlt hat.«
»Soweit ich weiß, schleppte Mosche die Tafeln nicht den Berg hinauf, sondern brachte sie vom Gipfel mit hinunter«, mischte sich Boris ein: »Es hat schon seinen Grund, weshalb die jüdische Überlieferung uns die genaue Lage des Bergs nicht verrät.« Die Tora sei den Menschen gegeben. Eine Art Wallfahrtsort würde nur von der Erfüllung ihrer Gebote ablenken. Das leuchtete uns ein. Nur Mosche haderte noch mit Boris’ Erklärung. Doch oben angekommen, hatte er es plötzlich sehr eilig, seinen Rucksack zu leeren.
Gipfel Die Aussicht vom Berg Sinai war grandios, die Atmosphäre majestätisch. Christen und Muslime hatten auf dem Gipfel jeweils eine Kirche und eine Moschee erbaut. Nur jüdische Spuren gab es keine. Boris’ Interpretation schien sich zu bestätigen. Denn jeder der Nachbargipfel hätte ebenfalls der Berg sein können, auf dem Gott Mose als Stimme im brennenden Dornbusch erschienen war. Alles war vorstellbar, auch ohne Steinsouvenirs im Rucksack.