Als die großen Talmudgelehrten Abaje und Rawa noch Kinder waren, saßen sie einmal mit dem berühmten talmudischen Weisen Rabba zusammen. Der sprach zu ihnen: »Wo ist G’tt?«. Die zwei Jungen gaben unterschiedliche Antworten. Rawa zeigte auf die Dachsparren, Abaje ging nach draußen und zeigte gen Himmel (Berachot 48a).
Auf den ersten Blick scheint dies eine einfache und kindliche Geschichte zu sein. Warum erwähnt der Talmud diese Begebenheit? Haben die Kinder wirklich zwei unterschiedliche Antworten gegeben? Wenn man Kindern die Frage stellt, »Wo ist G’tt?«, dann werden die meisten nach oben zeigen und wahrscheinlich sogar diese zwei talmudischen Kinder übertreffen und in alle Richtungen zeigen.
Erklärung Einer der großen Kabbalisten des vergangenen Jahrhunderts, Rabbi Levi Jitzchak Schneerson (1878–1944), der Vater des Lubawitscher Rebben, bietet eine Erklärung zu der oben genannten talmudischen Geschichte von Abaje und Rawa.
G’tt verkörpert für mich das ultimative Mysterium und die Unendlichkeit.
Die von Rabba gestellte Frage »Wo ist G’tt?« war mehr als bloßer Religionsunterricht in der ersten Klasse. Es war eine tiefgründige Frage, die jeden von uns betrifft. Wo begegnet man G’tt? Wo kann man Ihn finden? Ich möchte eine Beziehung zu G’tt haben, aber wo soll ich nach Ihm suchen?
Als der Kotzker Rebbe (1787−1859) noch ein Kind war, stellte ihm jemand genau diese Frage, die Rabba den zwei Kindern gestellt hatte: Wo ist G’tt? Seine Antwort war: »Wo immer man Ihn hereinlässt!«
RAWA Aber wie lassen wir Ihn herein? Hierauf gaben zwei Kinder, die später zu spirituellen und intellektuellen Giganten heranwuchsen, zwei sehr unterschiedliche Antworten. Rawa deutete auf die Dachsparren, Abaje ging hinaus und zeigte gen Himmel. Was bedeutet dies?
Wenn alle Wörter geschrieben und alle Sätze gesprochen worden sind, bleibt noch das große Mysterium des Lebens.
Wo kann ich nach G’tt suchen? Soll ich auf das strukturierte und begrenzte Dach meines Hauses schauen, oder blicke ich hinauf in den entfernten und weitreichenden Himmel? Soll ich in den Strukturen meines eigenen Lebens nach G’tt suchen? G’tt ist mein individueller Vater, Mutter und Mentor, mein persönlicher Freund und Therapeut, der sich um mich sorgt, sich um meine Belange, meine Zwiespälte, Probleme und Schwierigkeiten kümmert.
Ich rufe nach Ihm, wenn ich Schmerzen habe, und ich danke Ihm für den Segen, den ich erhalten habe. Ich teile meine Ängste mit Ihm, und ich bitte Ihn, tagsüber meine Hand zu halten. Er ist bei mir, in meinen guten und in meinen schwierigen Momenten. Meine Tränen sind Seine Tränen, und mein Lachen ist Seines.
SUCHEN Vielleicht sollte ich meine eigene Bleibe verlassen und im Himmel nach G’tt suchen, Milliarden von Lichtjahren entfernt von meinem Zuhause und auch von meinem kleinen Planeten namens Erde.
So wie ein Dichter es einmal ausdrückte: »Manche werden ins süße Leben geboren, manche in die endlose Nacht.«
Ich finde G’tt in der Unendlichkeit des Universums, das meine Vorstellungskraft sprengt und überfordert. G’tt verkörpert für mich das ultimative Mysterium und die Unendlichkeit. Es ist etwas, das mein Gehirn nicht umfassen kann − eher umgekehrt umfasst und erfasst es mein Gehirn. Ich kann mich selbst nicht in G’tt finden, ich muss mich in G’tt verlieren. Ich kann G’tt nicht immer erzählen, wie groß meine Probleme sind. Stattdessen muss ich meinen Problemen erzählen, wie groß G’tt ist.
Wenn alle Wörter geschrieben und alle Sätze gesprochen worden sind, bleibt noch das große Mysterium des Lebens. Wir mögen unser Leben planen und ordnen und das Universum vermessen, aber – Abaje hatte es verstanden – keine noch so intensive Forschung wird das Wunder einfangen können. Und wer von uns würde dies ändern wollen?
Wer möchte das Wundervolle aus der Erfahrung entfernen, wenn man in die Augen eines Neugeborenen blickt? Wer hätte nicht das Gefühl der Entweihung, wenn wir beim Anblick eines Verstorbenen wüssten, was den leblosen Körper verlassen hat? Das sind Ereignisse, die uns menschlich machen, die die Entfernung zwischen uns und den Sternen bestimmen.
WAISE Abaje und Rawa waren sehr unterschiedlicher Herkunft. Rawa kam aus einer wohlhabenden, prominenten und vornehmen Familie. Abajes Lebensgeschichte war das Gegenteil. Sein Vater starb, als seine Mutter mit ihm schwanger war. Und kurz nach der Geburt starb auch die Mutter. Er war eine Vollwaise, ohne Vater und Mutter, und lebte sein Leben lang in Armut.
Eine Waise hat keinen Ort, den sie »Zuhause« nennen kann. Wenn eine Waise Heilung finden soll, dann muss sie den G’tt des Himmels entdecken. Sie muss in den Himmel schauen können und die Liebe eines G’ttes sehen können, dessen Realität weit mehr ist. Die Waise lebt und handelt auf einer höheren Ebene. So wie ein Dichter es einmal ausdrückte: »Manche werden ins süße Leben geboren, manche in die endlose Nacht.«
Glück Rawa hingegen lebte ein Leben in Sicherheit und Wohlstand. Sein Zuhause war ein solider Ort. Er hatte das Glück, G’tt als »Dach über dem Kopf« zu betrachten – der Beschützer seiner Heimat, sein Freund, zu dem er nach seinem eigenen Befinden eine Beziehung hatte. Er konnte G’tt als vertraut, intim und sympathisch betrachten, ihn wie einen engen Freud umarmen.
Der Talmud berichtet von Hunderten Rechtsdebatten zwischen Abaje und Rawa und stellt als Regel auf, dass das Gesetz in den meisten Fällen Rawa recht gibt. Dies gilt auch für die oben erwähnte Debatte. Der Großteil von uns sollte meistens G’tt in den Dachsparren unseres Hauses finden, in den Feinheiten unseres Lebens und unserer Aktivitäten.
Doch ab und zu, und für einige von uns auch häufiger, ruft das Leben uns auf, Abajes Perspektive anzunehmen, unsere Augen auf den endlosen Himmel zu richten und uns mit der Ekstase des Unendlichen verschmelzen zu lassen. In den Worten desselben Dichters: »Die Welt in einem Sandkorn zu sehen,/ Und den Himmel in einer wilden Blume,/ Haltet die Unendlichkeit in eurer Hand,/ Und die Ewigkeit in einer Stunde«.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
Inhalt
Der Wochenabschnitt Ekew zählt die Folgen des Gehorsams der Israeliten auf. Wenn sie sich an die Gesetze halten würden, dann blieben die Völker jenseits des Jordan friedlich, und es würde sich materieller Fortschritt einstellen. Die bisherigen Bewohner müssen das Land verlassen, weil sie Götzen gedient haben – nicht, weil das Volk Israel übermäßig rechtschaffen wäre. Am Ende der Parascha verspricht Mosche, im Land Israel würden Milch und Honig fließen, wenn das Volk die Gebote beachtet und an die Kinder weitergibt.
5. Buch Mose 7,12 – 11,25